Prof. Dr. Rudolf Tippelt

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Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung, LMU München

 

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Interview vom 07. Juli 2011 von Diplom-Pädagoge Florian Bödecker

 

Bildung ist für viele nicht unbedingt etwas, das Sie mit dem Alter in Zusammenhang bringen würden. Wieso kommt Ihrer Meinung nach dem Thema „Bildung im Alter“ solche Bedeutung zu?

„Alter“ muss man sicher differenzieren. Bei den älteren Erwerbstätigen ist Bildung notwendig, weil man nur durch Bildung und Weiterbildung im Arbeitsprozess weiter tätig sein kann. In der nachberuflichen Phase ist Bildung, glaube ich, deswegen so wichtig, weil sich die Älteren durch Bildung in diese Gesellschaft integrieren, sie wissen mehr und sie können sich eigenständig und bewusster informieren, sie partizipieren stärker an Kultur, an Politik, nehmen beispielsweise sehr informiert und reflektiert an Wahlen teil, ihre Entscheidungen können sie bewusster fällen. Ältere wissen durch Weiterbildung mehr über Fragen der Gesundheit, kennen die Möglichkeiten der Prävention und das wiederum hat sehr positive Folgen auf das Alltagsverhalten. Bildung kann darüber hinaus bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen helfen wie z.B. Krankheit oder dem Verlust des Partners. Hier bekommt Bildung die Form von Beratung, die bis an die Grenze zur Therapie reicht.

 

In Ihrem Vortrag haben Sie ausgeführt, dass die Bildungsbereitschaft nach dem 50. Lebensjahr stark abfällt. Wovon hängt denn die Bildungsbereitschaft der Älteren ab?

Die Erwerbstätigkeit hat auf die Bildungsbereitschaft einen starken Einfluss: Nach der Pensionierung nehmen ehemals Erwerbstätige noch doppelt so häufig an Weiterbildung teil wie die vormals Nicht-Erwerbstätigen (25% vs. 12%). Dann hängt die Bildungsbereitschaft auch sehr stark vom familiären Milieu und den Bildungserfahrungen in der Schule ab: Herkunftsfamilien prägen und man kann einen Habitus entwickeln, sich mit Bildung und Kultur intensiv auseinanderzusetzen. Wer in der Schule positive Bildungserfahrungen machen und auch Selbstbewusstsein aufbauen konnte, der hat dann auch später eine sehr positive Haltung zu Bildung, auch im späten Erwachsenenalter. Positive Bildungserfahrungen stärken lebenslang die Bildungsbereitschaft. Problematisch können auch die Altersbilder sein, die Ältere von sich haben, weil sie sich dann für Bildung zu alt halten. Dieses Bild hat sich allerding durch vermehrte und bessere Bildungserfahrung von Generation zu Generation verbessert. Daneben sind aber auch die „Gelegenheitsstrukturen“ wichtig: Bildungsangebote sind für 50-jährige nicht mehr so dicht. Allerdings ändert sich auch das, weil ältere Arbeitskräfte ökonomisch mehr gebraucht werden und Weiterbildungseinrichtungen sich auf eine größere Nachfrage von Älteren einstellen.

 

Sie haben es gerade schon angesprochen. Auf welche Barrieren stoßen denn Ältere, die sich noch weiterbilden wollen? 

Manchmal noch immer auf zu wenig aufgeklärte Personalverantwortliche – ich rede über die älteren Arbeitnehmer – die einfach die Bildungsanstrengungen eines 55Jährigen nicht mehr als rentabel definieren. Das aber ist Unsinn! Diese Barriere des mangelnden Wissens über die Produktivität der Älteren lässt langsam nach. Ein Umdenken hat begonnen. Aber noch immer gibt es wenig Bildungsangebote für Ältere, noch immer zu wenig methodisch, didaktisch ausgebildete Pädagogen, die mit Älteren auch bewusst arbeiten können und wollen. Hier gibt es einen Nachholbedarf. Auch die Geragogik ist noch nicht hinreichend ausgebaut angesichts der Alterungsprozesse in der „Gesellschaft des langen Lebens“ und auch die Sozialpädagogik deckt das meines Erachtens noch nicht ab.

 

Wenn es jetzt darum geht, die Älteren stärker mit einzubinden, wie müsste sich denn die Bildungslandschaft ändern, damit Ältere sowohl die Gründe haben sich weiterbilden zu wollen als auch die Möglichkeiten dazu?

Bildungseinrichtungen müssen offen sein für ältere Lernende und ein entsprechendes Angebot für sie machen. Auch darf für bestimmte soziale Gruppen Bildung nicht zu teuer sein, weil es Menschen gibt, die sich Bildung nur leisten können, wenn sie kostengünstig angeboten wird. Die Finanzierung und generell die Dichte der Weiterbildungsstruktur sind die wichtigsten Faktoren, die auch auf die Nachfrage wirken. Bildungseinrichtungen müssen darüber hinaus den Älteren, nicht als Objekt, sondern als Subjekt von Bildung sehen: er soll so viel wie möglich mitgestalten können. Außerdem werden die positiven Bildungserfahrungen in der frühen Sozialisation, die zunehmende Erwerbstätigkeit, die kontinuierliche Veränderung der Altersbilder eine stärkere Bildungsnachfrage hervorrufen. Aber auch der Schritt weg von der Defizithypothese zur Kompetenzhypothese des Alters, die die Stärken der Älteren betont, verändert das Selbstbild und stärkt die Einsicht, durch Bildung in schwierigen Lebensphasen, die Lebensqualität verbessern zu können.

 

Ich würde gern auf Unterschiede eingehen, so es sie denn gibt zwischen Älteren und Jüngeren. Es ist klar, dass Ältere genauso individuell unterschiedlich sind wie Jüngere. Aber gibt es denn so was wie eine Tendenz, was z. B. die Lerngründe angeht und die Lerninhalte? Wo unterscheiden sich da Jüngere und Ältere?

Es gibt bei den Älteren ähnliche Lerngründe, aber nicht in der gleichen Häufigkeit. Wenn wir auf die älteren Erwerbstätigen sehen, da gibt es solche, die bilden sich weiter, um in der eigenen Organisation wertvoll zu bleiben. Es gibt andere, die bilden sich weiter, um neue Arbeitstechniken kennen zu lernen, um nicht arbeitslos zu werden. Es gibt wieder andere, die bilden sich weiter, um aufzusteigen, denn auch mit über 50 Jahren wollen sich mache durch eine sinnvolle Aufstiegsfortbildung in der beruflichen Hierarchie bewegen. Es gibt dann die Gruppe - sie ist nicht so groß wie bei den Jüngeren -, die interessiert sich für Weiterbildung, um mobil sein zu können, um eventuell auch mit 55 und mit 60 doch noch einmal an einer anderen Stelle berufstätig zu sein oder vielleicht auch eine neue Existenz zu gründen.

 

Noch eine Nachfrage zu den Unterschieden zu den jüngeren und älteren Lernenden. Das haben Sie in Ihrem Vortrag ja auch angesprochen, dass Ältere anders lernen. Mit anderen Medien. Sie haben gesagt, dass da Bücher sehr wichtig sind.

Das Internet und die neuen Medien werden je jünger man ist immer zentraler und auch selbstverständlicher, auch als ein Lernmedium und ein Informationsmedium, das man regelmäßig nutzt. Bücher sind dagegen bei Älteren beliebter und werden von jenen, die an Lesen gewöhnt sind, sehr stark nachgefragt. Dann sind die informellen Lernorte, z. B. die Museen und Galerien, bei Älteren beliebt. Ebenso sind Reisen für Ältere oft eine Gelegenheit, etwas über andere Länder, Leute, Speisen und Musik zu lernen und dienen nicht nur der Unterhaltung. Bei Jüngeren ist Lernen dagegen erstens sehr viel stärker noch auf den Beruf und Karriere gerichtet.  Lernen ist bei Jüngeren auch stärker auf den Familienbildungsprozess gerichtet. Ältere dagegen lernen, um z.B. neue Menschen kennen zu lernen, aber auch um aufgeschobene Bedürfnisse zu befriedigen oder präventiv, um gesundheitlich profitieren zu können. Ältere wollen vielleicht durch Mund zu Mund Propaganda angesprochen werden, Jüngere reagieren auf Internetwerbung oder andere schnelle Formen der Werbung eher. Bei der Preispolitik sind beide Gruppen empfindlich: Manche können sich vieles leisten, für andere ist die Erhöhung um 5 Euro schon zu viel. Die Älteren suchen sehr viel stärker eine Heimat in der Bildungseinrichtung mit ähnlich Lernenden, durchaus offen für die Begegnung mit Jüngeren, aber die festen Räume sind den Älteren wichtiger als den Jüngeren, die mobiler sind.

 

Sie hatten auch dazu gefragt, was denn Älteren und Jüngeren wichtig sei bei einer Bildungsveranstaltung. Können Sie dazu noch kurz etwas sagen? Was die Unterschiede angeht?

Sie haben ja gesehen, dass es sehr variiert, auch bei den Älteren gibt es Milieus und entsprechende Unterschiede der Lebensstile und Lebenswelten. Manche suchen soziale Kontakte, der Inhalt ist dann fast sekundär, es muss ihnen persönlich wichtig sein. Aber die soziale Dimension, das Gespräch mit anderen, ist dann zentral. Das haben Junge und Ältere gemeinsam. Da würde ich keinen Unterschied markieren. Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede ein. Natürlich ist die Geschwindigkeit gerade aber nicht nur im technologischen Bereich völlig unterschiedlich. Auch beim Sprachunterricht ist das Lerntempo entscheidend, aber auch die Themen, die man im Sprachunterricht ansprechen kann oder soll, sind verschieden, weil die Lebenswelten doch anders sind. Alle Altersgruppen wollen eine Mischung der Lernmethoden, didaktische Variation, wie Pädagogen sagen. Lernende wollen weder nur den Vortrag, weder nur das Gruppengespräch, die Metaplantechnik oder die Partnerarbeit. Junge Studenten wie ältere wollen beim Lernen Abwechslung, wollen einen Mix der vielen Lernmethoden, die wir kennen.

 

Ich würde gern zu meiner letzten Frage kommen. Was glauben Sie, wie sich das Bildungssystem oder die Bildungslandschaft in den nächsten 20 Jahren verändern wird?

Ich denke, wir werden weiter eine Bildungsexpansion haben, d.h. die Älteren der zukünftigen Generationen werden vermehrt höhere Bildungsabschlüsse haben. Ich glaube, dass es uns besser gelingen wird, in den nächsten 20 Jahren, die Migranten zu integrieren in unser Bildungswesen, so daß weniger Menschen ganz aus dem Berufs-, und Bildungssystem herausfallen. Ich glaube, dass wir stärker die Bildungsstandards realisieren. Das heißt also, dass es ein Mindestmaß an Bildung zu erreichen gilt, insbesondere bei der Lese- und Schreibfähigkeit, bei der Rechenfähigkeit, aber auch bei den fremdsprachlichen Kompetenzen. Auch wird sich nicht nur die frühkindliche Bildung in den Kinderkrippen und Kindergärten verstärken, die Ganztagsschulen werden massiv an Gewicht gewinnen, auch der Erwachsenen- und Weiterbildungsbereich wird größer, weil der demographische Wandel so enorm ist. In diesem Zusammenhang wird die Gesellschaft sehr viel stärker auf den Bedarf und auf die Interessen der Älteren reagieren. Berufliche Bildung, das duale System, diese Mischung aus betrieblicher Ausbildung und schulischer Ausbildung wird sich behaupten. Gleichzeitig wird die Akademisierung der Berufe weiter zunehmen.

Also ich bin ein Optimist, wie Sie sehen. Ich glaube auch, dass die Bildung noch internationaler wird, dass wir Sprachen lernen, Englisch insbesondere, und dass es selbstverständlicher wird englisch zu lesen, englisch zu reden - auch in der älteren Generation. Wir werden intensiver und besser auf das Altern vorbereiten, insbesondere in Projekten und in speziellen Projektwochen. Und ich hoffe sehr, dass das fruchtbare intergenerative Lernen, die Kooperation von älteren und jüngeren Lernenden in gemeinsamen Bildungsprozessen auf allen Ebenen des Bildungssystems zunehmen wird. Aber hierzu ist noch viel Aufklärung, Überzeugungsarbeit und wechselseitiges Vertrauen notwendig.

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Zur Person

Rudolf Tippelt studierte von 1970-1977 Erziehungswissenschaften/Sozialpädagogik mit Soziologie, Psychologie und Philosophie in München, Heidelberg, London und Canterbury. Seine berufliche Tätigkeit führte ihn nach München, Heidelberg, Mannheim und Freiburg. Er wurde 1980 in Heidelberg promoviert und 1989 habilitiert und ist seit 1998 Professor für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Seine Forschungsschwerpunkte sind die Bildungsforschung, die Weiterbildung und Erwachsenenbildung, Bildungsprozesse über die Lebensspanne, der Übergang von Bildung in Beschäftigung und die Professionalisierung und Fortbildung des pädagogischen Personals im internationalen Kontext.

Rudolf Tippelt ist u.a. Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Steuerungsgruppe zur Bildungsforschung der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Rudolf Tippelt reist gern – besonders durch Lateinamerika. Er liest gern Kriminalromane und schwimmt mit Vorliebe in Seen. Im Winter ist er auf eisigen Höhen beim Skilaufen zu finden.

 

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Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 13.06.2018
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