Prof. Dr. Marcel Erlinghagen
Institut für Soziologie, Universität Duisburg-Essen
Interview vom 12.06.2012 von Stephanie Schmidt
Herr Prof. Erlinghagen, wie aktiv engagiert sich die alternde Gesellschaft?
Derzeit engagiert sich in Deutschland etwa jeder dritte Erwachsene. Dabei ist der Anteil der Aktiven in den vergangenen 25 Jahren kontinuierlich angestiegen. Die Gruppe der über 50jährigen zeigt hierbei die größten Zunahmen. Dass die Gruppe im Alter 50+ besonders hohe Wachstumsraten zeigt, hat unterschiedliche Ursachen. Zum einen schlägt sich auch hier die insgesamt bessere Gesundheit und Bildung der in das Seniorenalter kommenden Generationen nieder. Zum anderen kann auch ein „Kohorteneffekt“ vermutet werden, d.h. die besonders engagierten der Generation der 68er kommt nun ins Rentenalter und behält ihr soziales Engagement bei.
In welchen Bereichen findet das Engagement hauptsächlich statt?
Die Aktivitätsfelder sind sehr vielfältig. Traditionell ist das Engagement in Deutschland aber besonders hoch im Sport – jeder 10. engagiert sich hier. Ebenfalls von besonderer Bedeutung sind sowohl Kirchen und religiöse Organisationen als auch der Bildungssektor.
Aus welchen Gründen entscheiden sich gerade ältere Menschen für ein Engagement? Bleiben diejenigen, die sich für ein Engagement entscheiden in ihrem früheren beruflichen Umfeld oder erschließt man neue Aufgabenfelder?
Leider fehlen bislang aussagekräftige wissenschaftliche Analysen über die Motive, warum Menschen ehrenamtlich aktiv werden, aktiv bleiben oder auch ihr Engagement einstellen. Insofern sind wir hier noch auf Vermutungen angewiesen. Klar ist aber, dass ältere Menschen nach dem Eintritt in den Ruhestand in der Regel nicht plötzlich beginnen, sich sozial zu engagieren. Aktive Senioren sind vielfach ihr Leben lang dauerhaft, zumindest aber immer wieder einmal ehrenamtlich tätig gewesen. In welchen Bereichen dies geschieht, ist jedoch im Lebenslauf wandelbar und hat auch mit den besonderen Situationen zu tun, in denen Menschen sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Biographie befinden. Im mittleren Alter steht das Engagement häufig im Zusammenhang mit den eigenen Kindern. Sind die Kinder aus dem Haus, wird das Engagement in anderen Bereichen fortgesetzt bzw. wieder aufgenommen. Der frühere Beruf wird hier - was den Engagementbereich betrifft - eine untergeordnete Rolle spielen
Sie sprechen von Möglichkeiten und Grenzen produktiven Alterns - was sind Ihrer Meinung nach Möglichkeiten / wo sind Grenzen?
In der Öffentlichkeit wird verschiedentlich so getan, als seien ältere Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine gesamtgesellschaftliche, unproduktive Last, die aufgrund der weiter fortschreitenden Alterung der Gesellschaft noch zunehmen werde. Diese Wahrnehmung ist nicht nur aus ethischer Perspektive höchst bedenklich, sondern ignoriert bspw. auch, dass bereits heute eine Vielzahl älterer Menschen auch nach dem Eintritt in den Ruhestand wichtige gesellschaftliche Funktionen z.B. im Ehrenamt aber auch in der Nachbarschaftshilfe oder aber bei der Pflege und Betreuung von Enkelkindern oder kranken Angehörigen übernehmen. Neben diesen direkten positiven Auswirkungen gibt es darüber hinaus auch positive Effekte für ältere Aktive selbst. Wer sich ehrenamtlich engagiert, bleibt eher fit, lernt Menschen kennen. Solche positiven Effekte sind aber nur dann zu erwarten, wenn soziales Engagement für die Aktiven nicht zur Belastung wird. Die Gefahr besteht, dass durch eine Verlagerung wichtiger staatlicher sozialpolitischer Maßnahmen auf den Freiwilligensektor nicht nur die Qualität sozialer Dienstleistung aufgrund des Mangels an professionellen Kräften leidet. Eine Überforderung gemeinnützig aktiver Menschen kann schnell zu negativen Gesundheitsfolgen führen und uns als Gesellschaft dann eher schaden als nutzen.
Sie warnen auch vor einer Überreizung eines neuen gesellschaftlichen Leitbildes des „produktiven Alterns“. Warum?
Wir müssen uns als Gesellschaft davor hüten, den produktiv im Ehrenamt tätigen Senior als neues Leitbild zu missbrauchen. Dies würde wiederum zu einer gefährlichen Wahrnehmung beitragen, dass ältere Menschen nur dann für eine Gesellschaft von Nutzen seien, wenn sie etwas leisten – sei es im Beruf oder aber im Ehrenamt. Abgesehen davon, dass es durchaus auch ein Recht auf Muße gibt, verkennt das Leitbild des „produktiven Alterns“ zudem, dass ehrenamtliches Engagement nicht voraussetzungslos ist. Ein guter Gesundheitszustand und vor allem ein hoher Bildungsstatus erhöhen massiv die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen ehrenamtlich aktiv sind – weil Gesundheit und Wissen häufig wesentliche Voraussetzungen sind, engagiert sein zu können. Soziales Engagement ist also nicht voraussetzungslos. Bildung, Gesundheit und eine professionelle staatliche Infrastruktur sind Garanten für soziales Engagement. Da, wo dies fehlt, darf man dann aber auch den Menschen nicht den Vorwurf machen, ihnen mangele es an Interesse für ihre Mitmenschen. Es gilt dringend der Wahrnehmung entgegenzutreten, dass nur ein aktiver Senior ein gutes Gesellschaftsmitglied sei.
Fallen durch das Engagement der älteren Generation nicht potenzielle Arbeitsplätze weg?
Wenn sich der Sozialstaat weiterhin zurückzieht und mehr oder weniger offen versucht, die nicht mehr bewältigten Aufgaben durch „Freiwillige“ kostengünstig erledigen zu lassen, besteht auf jeden Fall die Gefahr, dass reguläre Arbeitsplätze wegfallen – und zwar unabhängig davon, ob Ältere oder Jüngere stattdessen ehrenamtlich aktiv werden sollen. Die Erfahrungen mit den sogenannten „1-Euro-Jobs“ legen diese Vermutung nahe, da auch hier trotz anderer Ankündigungen Arbeitsplätze verdrängt worden sind. Insofern ist es wichtig, dass ehrenamtliches Engagement eine Ergänzung und in der Regel eben kein Ersatz für bezahlte professionelle Erwerbsarbeit sein darf.