Dr. Elke Ahlsdorf
Netzwerk AlternsfoRschung, Heidelberg
Interview vom 8. Juni 2010 von Astrid Söthe-Röck
Was ist das autobiografische Gedächtnis?
Das autobiografische Gedächtnis stellt eine ganz besondere Fähigkeit dar, die so nur beim Menschen vorkommt. Im autobiografischen Gedächtnis sind die Erinnerungen an die Ereignisse unseres Lebens gespeichert. Nach Tulving, einem der bedeutendsten Forscher zum autobiografischen Gedächtnis, gibt es mehrere zentrale Merkmale autobiografischer Erinnerungen. Sie sind in der Regel sehr lebendig, detailreich, durch eine emotionale Bedeutsamkeit gekennzeichnet und erlauben ein Gefühl des Wiedererlebens, Tulving spricht hier von einer „mentalen Zeitreise“.
Wieviele unserer Erfahrungen, die wir im Leben sammeln, werden im autobiografischen Gedächtnis gespeichert?
Generell werden die meisten Eindrücke unseres Lebens im Gedächtnis gespeichert, bewusst erinnert werden kann jedoch nur ein sehr kleiner Teil. Vor allem werden sicherlich persönlich bedeutsame Ereignisse erinnert. In der Gedächtnisforschung spricht man von so genannten “landmark events“, d.h. Meilensteinen in der persönlichen Biografie, z.B. Umbruchsituationen wie Einschulung, Berufsanfang, Hochzeit, etc. Aber auch andere Ereignisse werden erinnert, wenn sie eine emotionale Bedeutung für uns haben. Um dem späteren Abruf zugänglich zu sein, muss ein Gedächtnisinhalt, sei es ein einzelnes Faktum oder ein bestimmtes Ereignis, für eine gewisse Zeit im so genannten Arbeitsgedächtnis der bewussten Wahrnehmung zugänglich sein, bevor es im Langzeitgedächtnis gespeichert wird.
Wer oder was entscheidet, was gespeichert wird, und was nicht?
Letztendlich entscheiden Aufmerksamkeitsprozesse darüber, was gespeichert wird oder nicht. Wie gesagt, werden fast alle Sinnesreize oder komplexeren Erlebnisse gespeichert, aber nur das, was bewusst verarbeitet wird, kann bewusst abgerufen, d.h. erinnert werden. Was für den einzelnen bedeutsam ist, ist dabei abhängig von seinen Erfahrungen, seinen Motiven oder seinen Interessen. Was dem einen wichtig ist, kann für eine andere Person völlig uninteressant sein. Solche Aufmerksamkeitsprozesse spielen beispielsweise im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen eine Rolle, wenn bestimmte, eigentlich unbedeutende Begebenheiten eine besondere Bedeutung bekommen. Ein Mensch mit einer sozialen Phobie wird Situationen, in denen es um Kontakte mit anderen Menschen geht, sicherlich viel stärker erinnern als andere Menschen, weil sie von ihm als bedrohlich wahrgenommen werden.
Entsprechen unsere Erinnerungen immer der Wahrheit?
Nein. Unser Gedächtnis ist insofern nicht objektiv, dass es leicht beeinflussbar ist. Befunde zu so genannten „false memories“, also Erinnerungstäuschungen, zeigen im Gegenteil, dass sich unsere Erinnerung mit relativ einfachen Tricks täuschen lässt. Unter anderem hat Elisabeth Loftus hierzu verschiedene Untersuchungen durchgeführt, bei denen sie zeigen konnte, dass durch Erzählungen anderer, durch Bilder etc. autobiografische Erinnerungen an Ereignisse induziert wurden, die tatsächlich nie stattgefunden hatten, wie beispielsweise die Geschichte, als Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen zu sein. Auch Untersuchungen zu Zeugenaussagen vor Gericht zeigen immer wieder, wie leicht Erinnerungen verfälscht werden können.
Welche Bedeutung haben Erinnerungen für unser gegenwärtiges Leben?
Das Besondere am autobiografischen Gedächtnis ist, dass es uns in der Gegenwart erlaubt, auf der Basis vergangener Erinnerungen in die Zukunft zu planen. D.h. konkreter, dass wir in einem starken Maß sowohl in der Gegenwart aber auch in Hinblick auf unsere Zukunft durch vergangene Erfahrungen beeinflusst werden. Diese Erinnerungen und Erfahrungen werden uns über das autobiografische Gedächtnis zugänglich gemacht. Insofern haben Erinnerungen eine zentrale Bedeutung für unser gegenwärtiges Leben.
Verändert sich die Bedeutung von Erinnerungen mit dem Alter?
Es gibt Hinweise darauf, dass sich mit dem Alter die Bewertung von Erinnerungen ändert.
Man spricht hier vom so genannten „Positivitätseffekt“ oder auch vom „Paradox der Zufriedenheit“. Darunter versteht man, dass im Alter die positiven Erinnerungen im Allgemeinen überwiegen, bzw. dass auch eigentlich negative Ereignisse rückblickend als positiv bewertet werden. So war für meinen Großvater eine zentrale Erinnerung die an das Gefühl der Kameradschaft in der Kriegszeit, obwohl er auch viele schlimme Erfahrungen in dieser Zeit machen musste. Es gibt aber natürlich auch viele ältere Menschen, denen dies nicht gelingt und die noch heute unter traumatischen Erinnerungen an frühere Erlebnisse leiden.
Was muss ich tun, wenn ich ein bestimmtes Erlebnis auf keinen Fall vergessen möchte?
Gedächtnisinhalte werden umso besser gespeichert, je intensiver sie verarbeitet werden. Je mehr Sinnesmodalitäten beteiligt sind, desto tiefer ist die Verarbeitung, d.h. man sollte versuchen, sich an visuelle und akustische Merkmale ebenso zu erinnern wie an Gerüche oder emotionale Eindrücke. Auch wird ein Ereignis umso fester gespeichert, je häufiger man es wieder abruft, mit jedem Erinnern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es auch im Alter noch erinnert werden kann. Zudem helfen Gedächtnisstützen wie Fotos oder Notizen, das Gefühl des Wiedererlebens, das ja ein zentrales Merkmal der autobiografischen Erinnerung ist, zu erhalten. Und nicht zuletzt kann das Mitteilen, also das mit anderen über Erinnerungen sprechen, wie es beispielsweise in der Biografiearbeit praktiziert wird, dem Vergessen entgegenwirken.
Was können wir für ein vitales autobiografisches Gedächtnis im Alter tun?
Hier gilt das Gleiche, wie es ganz allgemein für ein gutes Gedächtnis gilt: man sollte sich geistig fit halten und in Bewegung bleiben, sowohl mental als auch körperlich. Und natürlich können wir versuchen, unser autobiografisches Gedächtnis zu fördern, in dem wir versuchen, den Dingen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, d.h bewusst durch Leben zu gehen, damit wir die Ereignisse wahrnehmen und speichern können, die eine Rolle für uns spielen. Und durch die entsprechenden Gedächtnisstützen können wir dann versuchen, die Erinnerungen so lange wie möglich lebendig zu halten.
Die AD geht ja mit Gedächtnisstörungen einher. Dennoch können Patienten oft erstaunlich gut Erlebnisse aus Kindheit oder Jugend wiedergeben. Bleibt das autobiografische Gedächtnis im Laufe der AD erhalten?
In meiner eigenen Untersuchung konnte ich nachweisen, dass schon in einem Vorstadium einer möglichen späteren Alzheimer Demenz, bei einer so genannten leichten kognitiven Beeinträchtigung, die Fähigkeit zur Erinnerung spezifischer autobiografischer Episoden nachlässt. Die Patienten waren weniger als Gesunde dazu in der Lage, klassische spezifische autobiografische Ereignisse zu erinnern, die durch ihre Einzigartigkeit, ihr Detailreichtum und ihre emotionale Bedeutung gekennzeichnet sind. Sie erinnerten häufiger „general events“ also allgemeine Ereignisse, wie z.B. die regelmäßigen Sonntagsspaziergänge mit den Eltern, die weniger genau und detailreich waren. Im Stadium einer manifesten leichten Alzheimer Demenz nahmen diese Schwierigkeiten noch weiter zu. Dieser Verlust des autobiografischen Gedächtnisses kann soweit gehen, dass am Schluss nur noch Fragmente der persönlichen Erinnerungen in Form einiger weniger Fakten erhalten bleiben.
Zur Person
Elke Ahlsdorf wurde 1975 in Bad Urach geboren. Sie studierte in Heidelberg Psychologie und schrieb ihre Diplomarbeit über die Person-Umwelt-Passung alleinlebender Hochaltriger bei Prof. Dr. Hans-Werner Wahl und Prof. Dr. Frank Oswald am Deutschen Zentrum für Alternsforschung (DZFA). Ein Praktikum während ihres Studiums führte sie in die Psychotherapeutische Praxisstelle der Universität Bern zu Prof. Grawe.
Nach dem Studium arbeitete sie mehrere Jahre in der Sektion Gerontopsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Zu ihren Tätigkeiten gehörten unter anderem die neuropsychologische Gedächtnisdiagnostik, die Mitarbeit an diversen klinischen Studien und die Durchführung von Gedächtnistrainings. In dieser Zeit promovierte sie bei Prof. Dr. Johannes Schröder über Veränderungen des Autobiographischen Gedächtnisses im Alter. Zudem arbeitete sie zeitweise in der Memory Clinic des Bürgerhospitals Stuttgart, wo sie am Aufbau der Gedächtnissprechstunde beteiligt war. Seit 2004 befindet sie sich darüber hinaus berufsbegleitend in der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie.
Mittlerweile ist Elke Ahlsdorf im Rahmen eines Stipendiums der Klaus Tschira Stiftung am Netzwerk AlternsfoRschung (NAR) der Universität Heidelberg beschäftigt. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind das Autobiographische Gedächtnis, die Bedeutung von Musik in der Erinnerung und die psychologisch- psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen. Derzeitiges Hauptprojekt ist die Einrichtung einer psychologischen Beratungsstelle für ältere Menschen im Rahmen eines Modellprojektes.
Elke Ahlsdorf lebt mit ihren zwei Kindern in Heidelberg und verbringt ihre knappe Freizeit am liebsten in der Natur oder mit Lesen. Ihre größten Wünsche sind derzeit eine Reise nach Skandinavien und die Verwirklichung des Lebenstraums Klavier spielen zu lernen.