Interview des Monats

Torno SwDr. Swetlana Torno 
Max-Planck-Institut, Göttingen 

 

zum 49. NAR-Seminar
„Altern in verschiedenen Kulturen“

mit Clara Cornaro

 

F I Was hat Sie bisher in Ihrem ethnologischen Forschungsprojekt zu den  Themen Mobilität, Sorge und Gender am meisten überrascht?

Das ethnologische Forschungsprojekt baut auf meiner Dissertation auf, in der ich untersuchte, wie (Für-)Sorge, verstanden als eine Norm, Beziehung und Praktik, den Lebensalltag von Frauen und ihre Lebensläufe prägt. Dabei habe ich beobachtet, dass Normvorstellungen über (Für-)Sorge sowie Verpflichtungen, für Familienmitglieder zu sorgen, die Mobilität von Frauen im Lebensverlauf unterschiedlich beeinflussen. Tadschikistan ist ein eher konservatives, muslimisch geprägtes Land, in dem die Rollen von Frauen und Männern klar getrennt sind und Vorstellungen über weibliche Moralität, etwa Keuschheit, und geschlechts- und altersspezifische Fürsorgepflichten eine wichtige Rolle spielen. Das hat unterschiedliche Konsequenzen für die Mobilität von Frauen im Lebensverlauf: Die Bewegungsfreiheit von jungen Frauen im öffentlichen Raum wird beispielsweise stark kontrolliert, um romantische Beziehungen zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Nach der Heirat ist ihre Mobilität aufgrund von Sorgepflichten im Haushalt weiterhin eingeschränkt, wobei einige Familien mehr Freiheiten bieten, etwa indem sie Frauen in Berufen wie Lehrerin oder Krankenschwester unterstützen. Mit zunehmendem Alter und, wenn die Kinder größer sind, nimmt die Mobilität der Frauen zu. Wenn sie später Schwiegertöchter haben, die den Haushalt führen, steigt ihre Freiheit weiter an. Diese geschlechtsspezifischen Dynamiken der Mobilität im Lebensverlauf sowie in Bezug auf die (Im-)Mobilität anderer Familienmitglieder dienten als Impulse für mein aktuelles Forschungsprojekt.

Das Forschungsprojekt untersucht die Auswirkungen der Arbeitsmigration jüngerer Generationen auf den Lebensalltag und die Mobilität älterer Menschen in Tadschikistan. Eine Frage, die ich dabei in den Blick nehme, ist, wie sich die Mobilität von älteren Männern und Frauen im Kontext von Arbeitsmigration unterscheidet. Besonders interessiert mich, wie Männer, die traditionell als „Brotverdiener“ gelten, mit dem Übergang von einem mobilen Arbeitsleben in den eher hauszentrierten Ruhestand umgehen. Einige Männer empfinden diesen Übergang als schwierig und suchen Beschäftigung außerhalb des Hauses, etwa in der Moschee oder bei geselligen Treffen mit Freunden oder Nachbarn. Da sie zuvor wenig Zeit zu Hause verbracht haben, fühlt sich das für einige unangenehm an. Ein ländliches Fallbeispiel, das ich untersuchte, zeigte, dass ältere Männer, wie z. B. der Apfelbauer Muzaffar, eine enge Verbindung zu ihrer Arbeit und physischen Aktivität suchen – dies gibt ihm einen Weg, wie gewohnt, mobil zu bleiben. Auch soziale Treffpunkte, wie Bänke in Dörfern oder Bestattungsfeiern, spielen eine wichtige Rolle. In folgendem Blogbeitrag gehe ich noch näher auf diesen Fall ein. Ich habe auch die Erfahrung eines älteren Mannes im städtischen Raum untersucht, der nach einer erfolgreichen Karriere plötzlich keine Arbeit mehr fand und große Schwierigkeiten hatte, sich an den Ruhestand zu gewöhnen. Er kämpfte mit Alkoholismus und dem Verlust von sozialer Bedeutung, was zu einer schwierigen Zeit für ihn und seine Familie führte.

F I Bei dem starken Bedarf nach Beschäftigung gibt es auch Ältere, die freiwillige Arbeit suchen?

Freiwillige Arbeit, wie wir es im europäischen Kontext verstehen, gibt es unter älteren Menschen in Tadschikistan eigentlich nicht, da Arbeit meist mit Bezahlung verbunden ist. Wir befinden uns in anderen Verhältnissen von Wohlstand und Alterssicherung. Stattdessen übernehmen ältere Menschen oft familiäre Aufgaben, wie in dem Fallbeispiel Nazarali, der seine Enkelkinder bei den Schulaufgaben unterstützt, oder bei Muzaffar, der für die Wasserverteilung im Dorf sorgt und dafür keine Bezahlung erhält, sondern Respekt in der Dorfgemeinschaft und kleine Aufmerksamkeiten (bspw. Einladungen zum Tee oder Essen).

F I Was sind die häufigsten Beschäftigungen der Arbeitsmigranten in Russland? Gibt es hierbei Unterschiede in der Distanz oder Dauer des Wiedersehens?  

Die häufigsten Beschäftigungen für Migrant*innen in Russland betreffen vor allem den Bau, Handel, Gastronomie, Fabriken, Straßenreinigung und Taxifahren. Viele Migrant*innen aus Zentralasien nehmen Arbeiten an, die die lokale Bevölkerung nicht ausführen möchte, wie etwa in der Reinigung oder im Baugewerbe. Anfang der 2000er Jahre war die Arbeitsmigration nach Russland unreguliert, mittlerweile gibt es strengere Regelungen. Es gibt Unterschiede, je nachdem ob das Land Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) ist. Kirgisische Staatsbürger*innen genießen mehr Freizügigkeit, während Menschen aus Tadschikistan eine Arbeitserlaubnis (Ru. patent) benötigen, die rund ein Drittel ihres Einkommens kostet. Wie häufig Migrant*innen zurückkehren, hängt von ihrem Verdienst ab. Manche kehren jährlich zurück, andere bleiben mehrere Jahre in Russland, besonders jüngere Männer ohne Familie. Seit den 2010er Jahren nehmen auch immer mehr Männer ihre Frauen mit, da die Distanz natürlich auch eine sehr hohe Belastung für die junge Familie darstellt, wenn sie sich länger nicht sehen. Das russische Grenzregime spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, da es für GUS-Staaten (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) relativ durchlässig ist. Dennoch stoßen Arbeitsmigrant*innen immer wieder auf Herausforderungen bei der Legalisierung der Arbeitsverhältnisse. Daher arbeiten manche Personen illegal, weil die legalen Wege nicht zugänglich oder zu teuer sind.

F I Wie wird in der Gesellschaft für ältere Menschen gesorgt, die keine Kinder oder keine nahen Verwandten haben?

In Tadschikistan trifft man selten ältere Menschen ohne Familie. Kinder zu haben, ist enorm wichtig, da sie als die zentrale Stütze im Alter gelten. Es gibt auch nur wenige Altersheime im Land, die als eine westliche Institution angesehen werden. Das ist ein häufigstes Gesprächsthema während meiner Forschungsaufenthalte, wo ich immer wieder die Aussage höre: „Wir in Tadschikistan, wir respektieren unsere Eltern, wir tragen sie auf unseren Händen! Wir würden unsere Eltern niemals in ein Altersheim abschieben.“ Diese Haltung spiegeln auch die mir bekannten Statistiken wieder. Den Angaben des tadschikischen Gesundheitsministeriums zufolge, gab es 2016 in ganz Tadschikistan nur acht Altersheime, in denen ca. 1020 Menschen lebten. Ein großer Teil der älteren Bevölkerung lebt mit einem der Kinder, meist dem jüngsten Sohn, zusammen. Da Menschen in der Regel viele Kinder bekommen – drei oder vier sind eher die Norm als eine Ausnahme – sind die Verwandtschaftsnetzwerke sehr groß. Das ermöglicht eine flexible und bislang gut funktionierende Unterstützung im Alter. Es ist sehr selten, dass Männer keine Kinder haben; häufiger bleiben Frauen unverheiratet. Wenn sie nicht mehr für sich sorgen können, werden sie von einem Bruder oder einer Schwester aufgenommen, oder es findet sich eine Nichte, die zu der Frau zieht. Frauen sind einfacher aufzunehmen, weil sie im häuslichen Bereich unter Frauen sind. Sie sind eventuell auch eine wichtige Stütze im Haushalt. Es ist äußerst selten, dass ältere Menschen alleine leben. Ich kenne zumindest keine Fälle persönlich. Es gibt einen großen sozialen Druck, Eltern im Alter nicht zu vernachlässigen, da es sonst das Ansehen der Familie schädigen könnte. Eltern im Alter zurückzulassen, sich nicht um sie zu kümmern, nicht das Beste für sie zu tun, wirft ein schlechtes Licht auf die Familie. Das würde eventuell heißen, dass man die Töchter oder Söhne nicht verheiraten kann, wenn sich das herumspricht. Religion und große Wertschätzung Älterer spielen ebenfalls eine große Rolle. Zu den moralischen Pflichten eines guten Moslems gehört die Fürsorge für die Eltern, während diese jüngeren Generationen bei wichtigen Unternehmungen einen Segen geben. Diese Aspekte erzeugen ein Gefühl der Ehrfurcht vor Gott und den Älteren. Man könnte von Gott bestraft werden. Es könnte sein, dass man kein Glück im Leben findet, weil man für die Eltern nicht alles getan hat, was man konnte. Für ältere Familienmitglieder zu sorgen, hat also auch eine hohe moralische Dimension.

F I Gibt es etwas, so wie Rituale, Gegenstände oder Orte, was für Individuen oder Familiensysteme in dem Veränderungsprozess an Bedeutung gewinnt?

Wenn wir an den Kontext der Arbeitsmigration denken, spielt sich in der Regel Folgendes ab: Bevor Söhne oder Töchter abreisen, wird oft ein festliches Mahl, das Osh (Reisgericht mit Karotten und Fleisch), zubereitet. Die Familie versammelt sich und ältere Angehörige sprechen einen Segen und wünschen den Jüngeren eine sichere Reise und Erfolg. Ältere Menschen spielen eine wichtige Rolle, da sie als näher zu Gott gelten und bedeutende Gebete sprechen können. Die Kinder bitten sie oft um ihren Segen, bevor sie nach Russland reisen. Die Verbreitung neuer Technologien wie Smartphones und Messenger-Dienste erleichtert es den Familienmitgliedern, über große Distanz einen regelmäßigen Kontakt aufrecht zu erhalten, auch wenn es nur kurze Anrufe von 2-3 Minuten täglich sind. Sie teilen nicht immer alle Schwierigkeiten, betonen aber oft, wie dankbar sie ihren Eltern gegenüber sind, und dass sie alles, was sie haben, von ihnen erhalten haben.

F I Hat sich das Altersbild durch die Arbeitsmigration der jüngeren Generationen und deren Kontakt mit anderen Kulturen gewandelt?

Die Gesellschaft, aber auch die Regierung, arbeiten intensiv daran, den Respekt gegenüber Älteren zu pflegen. Das ist weiterhin enorm wichtig und ich sehe da auch keine nennwerten Veränderungen seit meinem ersten Aufenthalt in Tadschikistan 2012. Meine Beobachtungen sind, dass ältere Menschen sehr viel Respekt genießen und Einfluss haben. Wenn Kinder beispielsweise nicht ganz mit der Meinung ihrer Eltern oder Großeltern einverstanden sind, würden sie es ihnen nicht offen sagen. Sie würden unter Umständen auch gegen ihren eigenen Willen handeln, wenn es die Eltern sehr stark wünschen. Dies führt zu einer Art Gerontokratie, die sowohl positive als auch negative Aspekte hat. Kinder lernen bereits im jungen Alter, dass sie sich der Autorität Älterer beugen sollten und dass sie in der Zukunft für die Eltern sorgen werden. Ich erlebe beispielsweise, wie junge Mütter, wenn sie mit ihren Einjährigen spielen, zu ihnen sagen: „Nicht wahr, mein Kind, wenn du groß bist, wirst du gut für deine Mutter sorgen?“ In Russland erleben Migrant*innen eine größere Freiheit, aber nach der Rückkehr fügen sie sich wieder in diese gesellschaftliche Struktur, die viel sozialen Druck aufbauen kann. Geldüberweisungen an die Eltern sind üblich, besonders für wichtige Ausgaben wie eine Pilgerfahrt oder Medikamente. Auch wenn finanzielle Schwierigkeiten auftreten, bleibt die Autorität der Eltern in den Familien hoch. Ob sich das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern verändert, wenn beispielsweise die gesamte Familie in Russland lebt, kann ich auf der Grundlage meiner Daten nicht sagen, da sich meine Forschung auf Tadschikistan konzentriert. Im Moment ist es für ausländische Wissenschaftler*innen kaum möglich, in Russland Forschung zu machen.

F I Gibt es Begriffe, die genutzt werden, um diese gesellschaftliche Veränderung zu beschreiben? Wie spiegelt sich der Veränderungsprozess in der Sprache oder der Kommunikation wider?

Dadurch, dass ich eher das Gefühl habe, dass es keine große Veränderung gibt, wie man die Familie praktiziert und lebt, weisen häufig benutzte Begriffe nicht unbedingt auf eine Veränderung hin, sondern eher auf die Bemühungen, Vertrautes aufrecht zu erhalten. Begriffe wie hurmat (Respekt) und die dazugehörige Praktik kalonsolonro hurmat kardan (die Älteren ehren, ihnen gegenüber Respekt zeigen) werden oft betont. Die Beziehung zwischen den Eltern und Kindern wird häufig als mehr und muhabbat bezeichnet, zwei Synonyme für Liebe, die häufig gemeinsam gebraucht werden. Ich bin beispielsweise Teil einer Familien-WhatsApp-Gruppe, deren Kinder in Tadschikistan, Russland und Deutschland leben. Dort beobachte ich fast täglich folgende Interaktion: Der Vater sendet morgens Grüße und spricht für die Kinder einen Segen, etwa dass der Tag nur Gutes bringen soll und Gott sie beschützen möge. Die Kinder antworten darauf mit liebevollen Botschaften. Man kann davon sprechen, dass diese virtuelle Kommunikation täglich die familiären Beziehungen erneuert. In anderen Familien ist der persönliche Kontakt ähnlich: Söhne begrüßen ihre Eltern morgens vor dem Verlassen des Hauses und abends nach der Rückkehr von der Arbeit. Solche Interaktionen stärken die Verbundenheit sowohl im realen als auch im virtuellen Raum.

F I Gibt es einen Unterschied in der Vorstellung des Alters, wenn die Eltern selbst schon Arbeitsmigrantinnen waren?

Diese Frage lässt sich momentan nicht beantworten. Die Geschichte der Arbeitsmigration in Tadschikistan ist noch relativ jung, sie begann Mitte der 1990er Jahre. Viele ältere Männer, die heute im Rentenalter sind, waren nur kurze Zeit Migranten. (Bis in die frühen 2010er Jahre gab es kaum Frauen unter tadschikischen Arbeitsmigranten in Russland.) Diese Migration dauerte zehn bis fünfzehn Jahre an und viele kehrten im Alter von 50 oder 55 Jahren zurück, da die Arbeit körperlich zu anstrengend wurde. Eine Generation, die ihr gesamtes Arbteitsleben in Russland verbracht hat, steht jetzt erst vor der Entscheidung, ob sie in Russland bleiben oder nach Tadschikistan zurückkehren möchte.

F I Was können wir von dem Umgang mit den Veränderungsprozessen, die die jüngere Generation nach Russland ziehen und dort arbeiten lassen, entlang der Russisch-Tajikistanischen Grenze lernen?

In Tadschikistan und anderen vergleichbaren Kontexten, in denen Arbeitsmigration eine zentrale, manchmal gar die einzige Einkommensquelle darstellt, hängt das Leben der gesamten Familie davon ab. Die Höhe der Geldüberweisungen entscheidet, was es auf dem Tisch zu essen gibt, wie häufig die Kinder neue Kleidung bekommen, ob sie nach neun oder elf Jahren die Schule verlassen und danach studieren können oder selbst zum Geldverdienen nach Russland gehen. Die Familie ist ein wichtiger Ort der Solidarität, besonders in Zeiten großer ökonomischer Unsicherheit. Die Resilienz von Familien kann enorm sein, um solche großen Umbrüche durchleben zu können. Gleichzeitig sollte man es aber auch nicht beschönigen, denn das System Familie kann einen enormen Druck aufbauen. In einigen Fällen müssen Kinder oder Enkel ihre Bildung oder Heirat verschieben, um für andere Familienmitglieder zu sorgen. Auch in westlichen Ländern, wo staatliche Versorgungsstrukturen besser ausgebaut sind, spielen Familien eine wichtige Rolle, etwa in der Betreuung von Enkelkindern. Auch hier sind sie oft unverzichtbar, weil öffentliche Unterstützung entweder fehlt oder zu teuer ist. Familienstrukturen bleiben weltweit ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, wenngleich sich ihre Aufgaben und Formen der Sorge verändern und neuen Bedingungen anpassen.


 
Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 01.07.2025
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