Dr. Patric Meyer

Zur Person

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

 

Fotos Meyer, Quelle: Michael Doh, NAR

 

 

 

 

 

 

 
Interview vom 24. Juni 2010 von Dr. Birgit Teichmann

 

Eric Kandel, Nobelpreisträger und einer der bedeutendsten Hirnforscher unserer Zeit prägte den Satz: „Wir sind wer wir sind, aufgrund dessen was wir lernen und woran wir uns erinnern“. Warum erinnern wir uns denn nicht an alles? Wie filtert das Gedächtnis?

Das ist ein absolut wichtiger Satz und es wäre auch katastrophal für uns, wenn wir uns tatsächlich an alles erinnern würden, was uns über den Tag, über das Leben hinweg begegnen würde. Innerhalb weniger Millisekunden, entscheidet sich was wichtig ist und was unwichtig ist. Das was keine Relevanz besitzt wird ausgeblendet. Was tatsächlich einen gewissen Grad an Wichtigkeit überschreitet - oft emotionale Informationen - wird in weitere Hirnareale weitergereicht, dort weiter verarbeitet und erlangt dann dadurch erst tatsächlich einen Grad des Bewusstseins.

 

Was verstehen wir überhaupt unter Gedächtnis und wie kann man sich das vorstellen?

Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts ist man davon ausgegangen, dass das Gedächtnis eine einzige Entität darstellt. Ein Prozess, an dem das Gehirn als Ganzes beteiligt ist. Man hat deswegen auch nicht davor zurückgeschreckt z.B. Patienten mit unbehandelbarer Epilepsie einer bestimmten Art von Operation zu unterziehen, bei der man ihnen z.B. den Hippokampus – dessen Verkalkung oft eine Ursache von Epilepsie darstellt - oder im schlimmsten Falle, wie bei dem berühmten Patienten H.M. beide Hippokampi rausoperiert hat. Da man davon ausging, dass das ganze Gehirn für das Gedächtnis zuständig ist, sollte es keine große Konsequenz haben, wenn ich einen kleinen Teil des Hirns herausoperiere. Man hat dann erst festgestellt, dass die Patienten nach der Operation eine derartig tiefe Amnesie entwickeln, dass sie sich tatsächlich nichts über zehn Minuten hinweg merken können. Es gibt zwar Erinnerungen an frühere Ereignisse vor der Operation, aber ab diesen Zeitpunkt der Operation ist es nicht mehr möglich neue Informationen einzuspeichern. Erst Mitte des letzten Jahrhunderts hat man letztendlich gemerkt, dass es spezifische Hirnstrukturen gibt, die im Gehirn für spezifische Gedächtnisprozesse zuständig sind. Dies heißt allerdings nicht, dass nicht trotzdem große Teile des Gehirns in verschiedene Gedächtnisprozesse involviert sind.

 

Jetzt hatten Sie ja schon erwähnt, manche Sachen kann man sich lange merken, manche nicht. Was unterscheidet denn Kurz- und Langzeitgedächtnis voneinander?

Durch diese Erkenntnisse an solchen Patienten die ich gerade eben geschildert habe, hat man auch festgestellt, dass tatsächlich das Gedächtnis in Kurz- und Langzeitgedächtnis unterschieden werden kann. Defizitär bei diesen Patienten war ausschließlich das Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis, z.B. wie es sich in einer normalen Kommunikation wie bei uns beiden äußert, war hingegen intakt. Sobald allerdings die Aufmerksamkeit von der laufenden Beschäftigung abgezogen wurde, war diese Information verloren, wenn sie nicht über einen gewissen Zeitraum wiederholt worden ist. Im gesunden Gehirn ist es jedoch so: Wird die Information durch irgendeinen anderen Prozess unterbrochen, können wir aus unserem Langzeitgedächtnis Informationen schöpfen und wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren. Das heißt, es muss offenbar so sein, dass für das Kurzzeitgedächtnis andere Hirnstrukturen zuständig sind als für das Langzeitgedächtnis. Die zentrale Struktur für das Langzeitgedächtnis ist der Hippokampus. Diese Hirnstruktur ist dafür zuständig, die im Kurzzeitgedächtnis aufgenommene Information durch einen sogenannten Konsolidierungsprozess zu verfestigen, sodass sie auch anschließend bewusstseinsbegleitet wieder abgerufen werden kann. Das gilt für den Bereich des deklarativen Langzeitgedächtnisses. Es gibt aber auch eine Form des Langzeitgedächtnisses, die nichts mit Bewusstsein zu tun hat. Z.B. Konditionierung oder prozedurales Lernen, z.B. wie man Fahrradfahren lernt oder Golf spielen oder aber Spiegelschrift lesen. Obwohl er keine Hippokampi hatte, die für das bewusstseinsfähige Langzeitgedächtnis zuständig sind, konnte H.M. trotzdem diese neue Fertigkeit erlernen. Aber er konnte sich keine neuen Fakten aneignen – bis auf einige wenige Ausnahmen - , nichts was wirklich verbal abrufbar ist.

 

Merkt man sich eher angenehme oder unangenehme Dinge?

Das kommt ganz darauf an. Das ist nicht über die Lebensspanne hinweg gleichbleibend. Prinzipiell kann man sagen, dass man sich eigentlich eher unangenehme Dinge merkt, weil diese auch, das macht evolutionär auch Sinn, wichtiger sein können. Wenn ich z.B. nur ein einziges Mal einer Schlange im Urwald begegnet bin, die mich gebissen hat, ist es relativ entscheidend, dass ich mir das merke. Wenn ich mehrfach einem Tier begegnet bin, das mir nichts angetan hat, eher weniger. Im Alter hingegen gibt es den sogennannten „positivity effect“. Dabei wird davon ausgegangen, dass man sich tatsächlich eher die positiven Sachen merken kann und diese auch eine große Relevanz bekommen. Warum das tatsächlich so ist, kann man noch nicht so ganz genau erklären.

 

Es gibt ja auch die Theorie, dass man im Alter einiges beschönigt, was einem in der Jugend passiert ist. Wie anfällig ist das Gedächtnis für Fälschungen?

Das Gedächtnis ist relativ stark anfällig für Fälschungen. Man kann sich das Ganze so vorstellen: Jedes Mal, wenn ich mich an eine vergangene Episode zurückerinnere, wird deren Gedächtnisspur fragil und instabil. In dem Moment des Erinnerns wird die Erinnerung selbst im Anschluss noch einmal neu eingespeichert. Wenn ich sozusagen zu diesem Zeitpunkt die abgerufene Information noch einmal neu einspeichere, kann ich sie dadurch auch modifizieren, in eine bestimmte Richtung. Und wenn ich das oft genug mache, dann hat eine Erinnerung zu einem späteren Zeitpunkt eine ganz andere Färbung als vielleicht am Anfang.

 

Sie haben zu Beginn etwas darüber gesagt, was passieren muss, damit etwas ins Langzeitgedächtnis übergeht. Hilft mir dieses Wissen beim Lernen, d.h. dass ich mir eine entsprechende Lernstrategie zurechtlege, die das besonders fördern kann?

Es gibt die Unterscheidung zwischen Oberflächenlernen und Tiefenlernen. Tiefenlernen involviert den Hippokampus. und hat dadurch eine größere Chance anschließend erinnert zu werden. Und selbstverständlich ist eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Gelernten von entscheidender Relevanz, sodass es so auch eine gewisse emotionale Salienz bekommt. Darüberhinaus ist Wiederholung ein ganz, ganz wichtiger Aspekt. Wenn ich Information oft genug wiederhole, ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas ins Langzeitgedächtnis übertragen wird viel höher, als wenn ich z.B. eine Vokabel nur ein einziges Mal sehen.

 

Wie ist es mit Eselsbrücken? Warum sind sie so sinnvoll, wenn reines Wiederholen reichen würde?

Eselsbrücken sind vor allem wertvoll, um sich Zahlenreihen, Namen, oder sehr abstrakte Informationen zu merken. Gerade wenn man sich viele Sachen merken muss, die eigentlich keinen Zusammenhang haben, hat das Gedächtnis häufig Probleme. Eselsbrücken umgehen diesen Umstand, indem sie die Einzelinformationen zusammenfassen - zum Beispiel zu einem Satz oder einem Reim. Auf diese Weise muss man sich nur eine Sache merken – die wesentliche Information ist darin versteckt.
Statt des eigentlichen Sachverhalts prägen wir uns einen Spruch oder ein Bild ein. Witzige oder ungewöhnliche Gedächtnisstützen sind dabei besonders leicht zu merken.

 

Wie verändert sich das Gedächtnis im Alter? Wird Lernen nur langsamer oder ist es generell schwieriger etwas im Langzeitgedächtnis zu behalten?

Das Gedächtnis, insbesondere das deklarative, episodische Langzeitgedächtnis und auch das prospektive Gedächtnis sind mit die ersten Funktionen, die auch im gesunden Altern abnehmen. Und das scheint auch tatsächlich damit zu tun zu haben, dass der Hippokampus durch das Alter in seiner Funktionsweise beeinträchtigt wird. Ebenso verhält es sich mit dem präfrontalen Kortex, die beide für die Gedächtniseinspeicherung und den Abruf äußerst zentral sind. Prospektives Gedächtnis ist so etwas wie, ich merke mir, dass morgen ein bestimmter Termin stattfindet, sich also etwas in der Zukunft merken. Unter dem episodischen Gedächtnis versteht man das detailreiche raumzeitliche Kontexterinnern. Im Alter bleiben zwar Sachen aus der Vergangenheit abrufbar, aber eher mit einem semantischen Charakter. Ich weiß, dass ich letztes Jahr im Urlaub war, aber ich kann mich nicht mehr an jedes Detail erinnern.

 

Bis in den 1990iger Jahren existierte das Dogma, dass im Gehirn von Erwachsenen keine neuen Nervenzellen entstehen können. Bis dann Thomas Björk Eriksson die Neubildung von Nervenzellen nachwies. Seitdem gibt es ständig Berichte, dass z.B.Sport beim Nervenwachstum hilft oder E. Altenmüller hat gezeigt, dass 20 Minuten Klavier spielen am Tag helfen. Kann man sich vorstellen, dass dies Auswirkungen auf zukünftige Forschung hat? Dass man weiß, da passiert doch noch was? Dass es vielleicht einmal Medikamente geben wird, die auch den Älteren helfen, das Lernen doch wieder zu verbessern?

Das wird mit Sicherheit in die Richtung gehen. Man weiß letzen Endes nicht aus ethischer Sicht, ob man dies befürworten soll oder nicht. Es gibt allerdings auch einfachere und nicht verschreibungspflichtige Methoden, den Hippokampus im Alter ein wenig auf die Sprünge zu helfen, und zwar durch die Tatsache, dass dessen Funktionsweise hauptsächlich auch durch Dopamin gesteuert wird. Es gibt Befunde die zeigen, dass ursprünglich nicht die gestörte Integrität des Hippokampus, sondern eigentlich eher Probleme in den Basalganglien bzw. in der Substantia Nigra, die das Dopamin herstellt, zur Gedächtnisstörungen führt, denn dieses Dopamin moduliert die Funktionsweise des Hippokampus. Das heißt, wenn das Dopamin nachlässt, wird man auch ein bisschen träger, man ist uninteressierter an Sachen, man ist nicht mehr so auf Neues aus. Das führt dann letzten Endes dazu, dass man z.B. weniger Neues erlebt; man reizt den Hippokampus also weniger, neue Sachen einzuspeichern und Neues zu erlernen. Wenn man aber versucht, aktiv die Lust am Neuen beizubehalten, häufiger ins Theater gehen oder in Urlaub fährt, sich darauf freut, sich vorbereitet, sich neue Sachen aneignet, vielleicht auch tatsächlich eine neue Sprache lernt, dann kann es tatsächlich dazu beitragen, dass das System noch über längere Zeit hinweg stabil bleibt.

Aber auch solche Umstände, halten eine Demenz, wenn sie einem einmal droht, nicht auf. Es kann diese zwar etwas länger hinauszögern, aber wenn es letzten Endes dann soweit ist, hilft auch dies nichts mehr.

 

Glossar (Quelle: Wikipedia)

Deklaratives Gedächtnis

Das deklarative Gedächtnis, auch Wissensgedächtnis oder explizites Gedächtnis, speichert Tatsachen und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden können. Man unterteilt das deklarative Gedächtnis in zwei Bereiche:

  • Das semantische Gedächtnis enthält das Weltwissen, von der Person unabhängige, allgemeine Fakten („Paris ist die Hauptstadt von Frankreich“, „Man hat eine Mutter und einen Vater“).
  • Im episodischen Gedächtnis finden sich Episoden, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben (Erinnerung an Erlebnisse bei einem Besuch in Paris, das Gesicht und der Name des eigenen Vaters).

Der Ort des deklarativen Gedächtnis ist der Neocortex.

 

Prozedurales Gedächtnis

Das prozedurale Gedächtnis, auch Verhaltensgedächtnis, implizites Gedächtnis oder nichtdeklaratives Gedächtnis speichert Fertigkeiten, Erwartungen, Verhaltensweisen und die Ergebnisse von Konditionierungsvorgängen und Priming. Es ist vielfältig in Bezug auf die enthaltenen Informationsarten, die notwendigen Lernmechanismen und die entsprechenden anatomischen Regionen.

Gemeinsam ist den Inhalten des prozeduralen Gedächtnisses, dass sie ohne Einschaltung des Bewusstseins das Verhalten beeinflussen können. Man denke an Gehen, Radfahren, Tanzen, Autofahren, Klavierspielen: Dabei müssen komplexe Bewegungen ausgeführt werden, deren Ablauf man gelernt und oft geübt hat, die nun aber ohne nachzudenken abgerufen werden können, ohne dass sich das Bewusstsein um Bewegungsimpulse an verschiedenste Muskeln und ihre Koordination kümmern müsste. Verschiedene subcortikale Regionen (nicht im Neocortex gelegen und damit nicht dem Bewusstsein zugänglich) erbringen die Leistung des prozeduralen Gedächtnis.

 

Zur Person

Patric Meyer wurde 1976 in Völklingen geboren. Er studierte Psychologie an der Universität des Saarlandes, wo er auch über die Einflüsse der Semantik auf das episodische Erinnern promovierte. Seit 2008 ist Patric Meyer PostDoc am Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie (Prof. Dr. Herta Flor) am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der wissenschaftliche Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Erforschung funktioneller und struktureller Störungen des mesio-temporalen Gedächtnissystems.

 

 

 

 

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 11.06.2018
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