Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse
Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg
Interview vom 13. Januar 2014 von Birgit Kramer und Katrin Boch
Was bedeutet für Sie „Alter“ oder „Altern“. Ab wann ist man denn alt oder gehört zum alten Eisen?
Der Begriff „Altern“ beschreibt eine kontinuierliche Veränderung unseres Organismus über den gesamten Lebenslauf. Mir erscheint hier der von Max Bürger eingeführte Begriff der Biomorphose als treffend: Kontinuierliche funktionelle (zum Teil auch strukturelle) Veränderungen unseres Organismus und unserer Psyche: Dies scheint mir den Alternsprozess in idealer Weise zu beschreiben. Der Begriff „Alter“ ist für mich zum einen ein gesellschaftlicher: Wir gehören ab einem bestimmten Lebensalter zu der Gruppe der „Alten“; allerdings scheinen sich hier Veränderungen im Verständnis und im Gebrauch dieses Begriffs einzustellen: Auch auf gesellschaftlicher Ebene beobachten wir eine Vielfalt an Definitionsversuchen – allein der Übergang in die nachberufliche Zeit ist nicht mehr hinreichend für die gesellschaftliche Definition als „alt“. Der Begriff „Alter“ ist für mich zum anderen ein subjektiver: Ab wann fühlt sich das Individuum „alt“? Mit Blick auf das subjektive Alter lassen sich große inter- und intraindividuelle Unterschiede beobachten. Letztere sind für mich besonders interessant: Mit Blick auf welche Merkmale des Organismus und der Persönlichkeit fühlt sich das Individuum „alt“ bzw. „nicht alt“? Gibt es Phasen, in denen es sich „älter“, und solche, in denen es sich „jünger“ fühlt?
Wie definieren Sie Gebrechlichkeit?
Drei Merkmale konstituieren in meinem Verständnis Gebrechlichkeit: Erstens eine deutlich höhere Anfälligkeit für Erkrankungen, zweitens eine deutliche Abnahme der körperlichen Reserven wie auch der Kompensations- und Restitutionsfähigkeit, drittens eine deutliche Zunahme funktioneller Einbußen.
Gibt es objektive Merkmale an denen man festmachen kann ab wann ein Mensch gebrechlich ist?
Die drei genannten Merkmale erscheinen mir hier als zentral. Vor allem die immer stärker in das Zentrum tretenden funktionellen Einbußen, die deutlich reduzierte Restitutions- und Kompensationsfähigkeit sowie eine deutlich gestiegene Erschöpfung sind wichtige Indikatoren.
Lässt sich der Begriff Gebrechlichkeit synonym gebrauchen mit dem englischen Begriff „frailty“, der ein geriatrisches Syndrom beschreibt?
Der englische Begriff „frailty“ konzentriert sich vorwiegend auf die funktionellen Einbußen. In meiner Definition, die sich mit zahlreichen Beiträgen aus der Geriatrie und Gerontologie deckt, werden ausdrücklich weitere Merkmale hinzugenommen. Die deutlich verringerten Restitutions- und Kompensationsreserven sind mir dabei besonders wichtig.
Wie unterscheiden sich Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit?
Verletzlichkeit ist in meinem Verständnis ein bedeutendes Merkmal der menschlichen Existenz – nicht erst im Alter, sondern in allen Lebensphasen. Im hohen Alter nimmt die Verletzlichkeit noch einmal erkennbar zu: Erhöhte Krankheitsanfälligkeit und stärkere funktionelle Einbußen sind Merkmale erhöhter körperlicher Verletzlichkeit, Einbußen der Leitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses, der Konzentrations- und der Umstellungsfähigkeit sind Merkmale erhöhter kognitiver Verletzlichkeit; zudem ist im hohen und höchsten Alter – einmal abgesehen von psychischen Erkrankungen – die Wahrscheinlichkeit passager auftretender psychischer Erschöpfung erkennbar erhöht – Merkmale der psychischen Verletzlichkeit. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass trotz dieser Verletzlichkeit weiterhin psychische Ressourcen und Entwicklungspotentiale erkennbar sind, dass sich Menschen auch in der Verletzlichkeit weiterentwickeln können, ja, dass die Verletzlichkeit selbst einen Impuls zur psychischen Entwicklung bilden kann. Die von Karl Jaspers, dem bedeutenden Heidelberger, später Basler Philosophen und Psychiater entwickelte Philosophie der Grenzsituationen bildet hier einen bedeutenden anthropologischen Kontext, der uns hilft, Entwicklungsprozesse in Grenzsituationen besser zu verstehen und einzuordnen.
Wie können Menschen „er-tragen“ lernen, dass der Körper mehr und mehr gebrechlich wird?
Zum einen ist bedeutsam, dass das Individuum in seinem Leben Bezugspunkte entdeckt und entwickelt, durch die eine zu starke Beschäftigung mit sich selbst, durch die eine Selbstzentrierung vermieden wird. Indem sich das Individuum als auf andere Menschen bezogen erlebt, indem es erkennt, dass es etwas für andere Menschen tun kann, dass es von anderen Menschen gebraucht wird, ist die Gefahr der Selbstzentrierung erkennbar verringert – und damit auch die Gefahr, von Krankheiten und Krankheitssymptomen überwältigt zu werden. Ich lerne unser eigenen empirischen Forschung zum hohen und höchsten Alter immer mehr, wie wichtig die subjektiv erlebte und praktizierte Sorge des Menschen für Andere und um Andere für ein subjektives stimmiges, sinnerfülltes Leben ist – das seinerseits hilft, Krankheiten und funktionelle Einbußen innerlich zu überwinden oder zu „verwinden“, wie dies Hans Georg Gadamer in einer Arbeit über den Schmerz umschrieben hat. Aber auch die seelisch-geistige Konzentration des Individuums, dessen Fähigkeit, in der Konzentration auf sich selbst zu neuen psychischen Kräften zu finden, ist hier wichtig. Und schließlich die Freude an der Welt – an anderen Menschen, an der Natur, an der Kultur: sie schafft ebenfalls jene Bezugspunkte, die wichtig sind, damit das Individuum nicht in sich selbst versinkt. In diesem Kontext will ich ausdrücklich auf die große Bedeutung einer reifen Spiritualität für diese seelisch-geistige Konzentration hinweisen.
Worin liegen die Entwicklungschancen eines Menschen in der Gebrechlichkeit?
In einer sehr konzentrierten Lebensführung: Unter „konzentriert“ verstehe ich zum einen die Achtsamkeit gegenüber sich selbst, zum anderen die Beziehung zu Menschen, die einen seelisch-geistig besonders ansprechen, mit denen man in einer offenen und emotional intimen Art und Weise Gedanken, Erlebnisse und Überlegungen austauschen kann.
Worin liegen die Entwicklungsgrenzen?
Vor allem in den chronischen Schmerzzuständen, vor allem in Mobilitätsbarrieren, die den Zugang zum öffentlichen Raum, die den Kontakt mit anderen Menschen erschweren, vor allem in der Erfahrung, die eigene Sorgekultur – die sich immer auch von der Frage leiten lässt: Was kann ich für andere Menschen tun? – nicht mehr aufrechterhalten zu können, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein. Dies zeigt: Wir müssen uns sehr viel stärker um die medikamentöse und nicht-medikamentöse Schmerztherapie kümmern; weiterhin stellt sich die Aufgabe der selbstständigkeits-, mobilitäts- und teilhabefreundlichen Gestaltung unserer sozialräumlichen Umwelt – denken Sie hier nur an die Quartiersgestaltung. Und schließlich ist bedeutsam, dass wir zu sehr viel differenzierteren Altersbildern auch mit Blick auf das hohe und höchste Alter gelangen: Darunter verstehe ich eine differenzierte Wahrnehmung und Ansprache des einzelnen Menschen, den wir nicht auf die körperliche Dimension reduzieren dürfen, sondern den wir auch in seiner seelischen, in seiner geistigen, in seiner spirituellen und in seiner sozialen Dimension wahrnehmen und ansprechen müssen. Welches psychische Potential ist bei vielen alten und sehr alten Menschen erkennbar, das wir aber nicht wahrnehmen und ansprechen, weil wir uns zu sehr auf das Körperliche konzentrieren.
Befindet sich ein Mensch mit Gebrechlichkeit bereits im Sterbeprozess?
Nein, das würde ich nicht sagen – zumindest aus einer physiologischen Perspektive lässt sich dies nicht behaupten. Und auch psychologisch können wir nicht sagen: Mit der Gebrechlichkeit beginnt der Sterbeprozess. Von einem Sterbeprozess spreche ich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Tod, und wir können erkennen, dass sich in dieser unmittelbaren zeitlichen Nähe noch einmal signifikante Veränderungen in den körperlichen Parametern ergeben (weiterer Rückgang der Restitutions- und Kompensationsfähigkeit), dass einzelne Parameter der kognitiven Leistungsfähigkeit einen deutlichen Rückgang zeigen (auch mit dem Begriff terminal decline umschrieben), dass sich Menschen mehr und mehr nach innen zurückziehen, sich zwar zwischendurch immer wieder nach außen öffnen, dies aber immer kürzer, immer schwächer. Der Rückzug nach Innen gewinnt ein immer größeres Gewicht. Gleichwohl: wir sollten uns rechtzeitig auf unsere Vergänglichkeit und Endlichkeit einstellen, diese zu einem bedeutenden Thema unserer Existenz werden lassen, die Ordnung des Lebens und die Ordnung des Todes zusammenführen, integrieren – ohne dabei in Resignation und Niedergeschlagenheit zu verfallen. In einem seiner 48 Sonette hat Michelangelo diese Haltung mit dem Begriff des „Stirb an“ umschrieben.
Andreas Kruse, geboren 1955, studierte Psychologie, Philosophie und Musik an den Universitäten Aachen und Bonn sowie der Musikhochschule Köln. Seit 1997 ist Andreas Kruse Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg.
Neben seinen fachlichen Interessen hat er große Freude an Musik, Literatur und Theologie. Andreas Kruse ist verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.