Dr. Christoph Rott

Dr. Christoph Rott
Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg

Interview vom 29.04.2019 zum Vortrag
"Hundertjährige im Spannungsfeld von Biologie und Psychologie"

(durchgeführt von Julia Schneider)

 

 

Herr Dr. Rott, ich danke Ihnen, dass Sie sich für ein Interview anlässlich des 42. NAR Seminars mit dem Titel „Wie lange können wir leben?“ bereit erklärt haben. Die Lebenserwartung ist in Deutschland laut dem Statistischen Bundesamt 2018 für neugeborene Jungen und Mädchen um weitere zwei Monate angestiegen (Sterbetafel 2014/2016), ebenso die ferne Lebenserwartung für Menschen über 65 Jahre. Ist eine solche Entwicklung auch in den kommenden Jahren zu erwarten? Und wenn ja, wodurch wird diese Entwicklung beeinflusst?
Auf jeden Fall kann von einer weiteren Zunahme der Lebenserwartung ausgegangen werden. Ein Ende des Anstiegs ist noch nicht erkennbar, zumindest in Deutschland, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Lebenserwartung wieder zurückgeht. Interessant sind auch gerade in der Thematik „Wie lange können wir leben?“ Hundertjährige sowie die Aussichten für die heutigen Frauen und Männer, dieses Alter zu erreichen. Dazu gibt es neuere Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung in Rostock, die sagen, dass Berechnungen zufolge von den heute fünfzigjährigen Frauen 12 Prozent mindestens 100 Jahre alt werden. Von den Männern sind es drei Prozent. Das heißt, das Erreichen eines sehr hohen Alters wird gar nicht mehr so etwas Außergewöhnliches sein. Die Autoren kommen auch zu dem Schluss, dass ein Alter von 90 Jahren in Zukunft völlig normal sein wird. Die Gründe dafür sind, denke ich, dass wir es durch vielfältige positive Entwicklungen im Bereich der Medizin, Hygiene und Kultur schaffen, das Alter hinauszuschieben. Das heißt, die Alternsprozesse, die früher in einem jüngeren Alter zu Tage getreten sind, setzen heute später ein. Es ist ein Verschieben des Alters nach hinten und nicht nur eine Verlangsamung von Alternsprozessen.

Gibt es denn ein Maximum des Lebensalters?
Das ist eine Frage, die im Bereich der Demographie sehr kontrovers diskutiert wird. Man ging lange davon aus, dass der Mensch maximal 115 Jahre alt werden könne. Dann gab es aber Menschen, die älter geworden sind. Es gibt kein definiertes Höchstalter, das in uns angelegt ist: So lange können wir leben und dann setzt ein Mechanismus ein, der das Ganze begrenzt. Das ist eher eine pragmatische Angelegenheit… Die Alternsprozesse und die dafür notwendigen Reparaturprozesse, die ständig stattfinden, werden so ineffektiv, dass es bisher eben nicht ausgereicht hat, über etwas mehr als 120 Jahre hinauszukommen. Theoretisch ist es durchaus denkbar noch länger zu leben, es scheint eher eine pragmatische Grenze zu sein.

Im Zuge dieser Entwicklung werden immer häufiger die Begrifflichkeiten „Langlebigkeit“ und „Hochaltrigkeit“ verwendet. Wie lassen sich diese beiden Begriffe definieren, in Beziehung setzen aber auch voneinander abgrenzen?
Langlebigkeit beschäftigt sich mit allem, was mit einem langen Leben zu tun hat, das heißt sowohl mit demographischen Aspekten als auch mit Aspekten der Lebensqualität. Mit der Dynamik der Zunahme der Lebenserwartung ist aber auch die Frage verbunden: Wie groß ist der Anteil an gesunden Jahren, insbesondere auch Jahren, die frei von Pflegebedürftigkeit sind? Das ist ein sehr weites Feld. Alles, was sich mit Altern und den dazugehörigen Aspekten beschäftigt, wird als Langlebigkeit und als Langlebigkeitsforschung bezeichnet. Das schließt auch biologische und genetische Komponenten mit ein, während Hochaltrigkeit eine Lebensphase bezeichnet, die international ab 85 Jahren definiert wird, in Deutschland eher ab 80 Jahren. Diese Gruppe wurde 1984 bei einem Symposium in den USA „entdeckt“. Man hatte Personen über 80 Jahre bis in die 1980er Jahre kaum beachtet, weil es so wenig waren. Man hat dann aber schnell festgestellt, auch die Demographen, dass diese Gruppe am schnellsten wächst. Das war 1984, die Geburtsstunde der oldest old. Und da begann man sich systematisch mit dieser Personengruppe, ihren Lebensbedingungen, ihrer Gesundheit und auch ihrer psychischen Befindlichkeit zu beschäftigen.

Herr Dr. Rott, Sie haben bereits Hundertjährige erwähnt. Sie waren Projektleiter der ersten Heidelberger Hundertjährigen-Studie und Ko-Projektleiter der zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie. Können Sie kurz zusammenfassen, mit was sich diese beiden Studien beschäftigten und welche Ergebnisse zu verzeichnen sind?
Wir haben mit beiden Studien versucht, ein repräsentatives Abbild dieses sehr hohen Alters zu liefern und zwar, das ist auch sehr wichtig, populationsbezogen. Das heißt, es gab keine Ausschlusskriterien. Wenn Personen aufgrund von Krankheiten und Demenz nicht in der Lage waren, irgendwelche Antworten zu liefern, haben wir trotzdem versucht, über Angehörige und Pflegepersonen, relevante Informationen zu bekommen. Wir haben verschiedene Bereiche untersucht, zunächst die Kognition. Das hat uns sehr interessiert, wie es mit dem Vorliegen von Demenzen aussieht. Dann die körperliche Funktionsfähigkeit, Abhängigkeit von Unterstützung und Pflege, hier insbesondere die Aktivitäten des täglichen Lebens. Und der dritte Bereich war das subjektive Wohlbefinden, auch wie Ältere das Leben sehen, wie sie das Leben bewerten. Dabei handelt es sich jetzt nur um Aussagen von Personen, mit denen wir kommunizieren konnten, die über sich selbst Auskunft geben konnten. Ein erstes Ergebnis ist, dass sich im rein körperlichen Funktionsbereich eine große Gebrechlichkeit abzeichnet. Der menschliche Körper ist im hohen Alter in der Regel gebrechlich, auch wenn wir, was wir auch in den Veröffentlichungen immer wieder betont haben, große interindividuelle Unterschiede finden. Das heißt, Hundertjährige sind nicht gleich Hundertjährige. Es gibt Personen, die körperlich und auch kognitiv „gut drauf sind“ und die keine wesentlichen Einschränkungen haben. Andererseits aber auch Personen, die bettlägerig, dement und in höchstem Maße auf Pflege angewiesen sind. Körperlich sieht es also nicht besonders positiv aus.

Im Hinblick auf Kognition können wir sagen, dass ungefähr ein Viertel der Personen als kognitiv intakt zu bezeichnen ist. Wir finden im Screening-Test keine Anzeichen, die größere Defizite belegen. Das heißt, diese Menschen könnten aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten selbständig leben. Das ist ungefähr ein Viertel bis ein Drittel. Allerdings ist aber die Hälfte – in der ersten Studie waren das 52 Prozent, in der zweiten Studie waren das weniger – von mittlerer bis schwerer Demenz betroffen. Dieser Anteil ist höher als in allen anderen Altersgruppen. Was uns dann positiv überrascht hat, war, wie gut die Menschen trotz dieser vielen Einschränkungen mit den Herausforderungen des hohen Lebensalters zurechtkommen. Das hätte ich nicht erwartet. Sie bewerten ihr Leben überwiegend positiv, obwohl sie sehr eingeschränkt sind, auch wenig machen können, aber es spielt keine Rolle mehr. Das sind zentrale Einstellungen zum Leben, die auf Optimismus und Hoffnung für die Zukunft ausgerichtet sind. Und es hat uns noch gezeigt, dass hier ganz andere Prozesse wirken, die das Leben lebenswert machen, als in jüngeren Altersgruppen. Das kann man sich also kaum vorstellen, dass diese Personen, die zu zwei Drittel pflegebedürftig sind, genau so zufrieden mit dem Leben sind wie Achtzigjährige in Privathaushalten, – verglichen mit einer anderen Heidelberger Studie. Das sind doch sehr positive Nachrichten. Was uns an der zweiten Studie besonders interessiert hat, ist die Frage, ob es Veränderungen im Abstand von elf Jahren gegeben hat. Wir haben im kognitiven Bereich eine sichtbare Verbesserung feststellen können, das heißt wir haben mehr Personen, die kognitiv intakt sind, und weniger Personen, die schwere bis mittelschwere Demenzen ausweisen, ungefähr 10 Prozent weniger in 10 Jahren. Im körperlichen Bereich finden wir leichte Verbesserungen, aber keine entscheidenden, wie zum Beispiel beim Gehen. Nur etwa 30 Prozent der Hundertjährigen in beiden Studien können überhaupt ohne Hilfe gehen. Und auch das Baden und Duschen – eine sehr komplexe Tätigkeit – hat sich nicht verbessert. Folglich ist auch die Pflegebedürftigkeit nahezu identisch. Die Pflegebedürftigkeit der Hundertjährigen ist im Zeitraum von zehn Jahren nicht zurückgegangen, die Raten sind nahezu identisch. 80 Prozent sind auf Pflege angewiesen. Mich interessiert insbesondere die funktionale Gesundheit. Die Frage ist, ob man durch präventive Maßnahmen früher im Leben basale Dinge vielleicht wesentlich besser erhalten kann, insbesondere die Mobilität zu Fuß. Ich denke, alles, was mit der Mobilität zusammenhängt, hat Auswirkungen auf andere Bereiche. Die Älteren, die einigermaßen gut und sicher gehen können, können auch andere Dinge. Hier sind wir einfach aufgefordert, auch bei den Hochaltrigen mehr auf diese funktionalen Aspekte zu schauen, um sie rechtzeitig zu fördern.

Sie haben jetzt auch über Faktoren gesprochen, die Grenzen setzen. Würden Sie sagen, dass die Einstellung zum Leben das Potential bei hochaltrigen Menschen ist?
Unbedingt, das war eigentlich das Kernerlebnis in den beiden Studien – die Anpassungsfähigkeit an sehr schwierige Lebensverhältnisse. Das kann natürlich auch ein Überlebensattribut sein. Nur diejenigen, die es auch bei Krankheiten, Einschränkungen, Belastungen lebenslang schaffen, eine positive Lebenseinstellung als Persönlichkeitseigenschaft zu bewahren, werden sehr alt. Es kann aber auch sein, dass sich diese Widerstandsfähigkeit erst im Alter durch die Auseinandersetzung mit den Begrenzungen und der Verletzlichkeit des hohen Alters entwickelt. Das sehe ich wirklich als das entscheidende Potential der menschlichen Psyche an, wenn man nicht von einer schweren Demenz betroffen ist. Wir wissen nicht, was Demenzkranke, mit denen wir nicht mehr kommunizieren können, empfinden. Ich kann nicht sagen, ob sie unglücklich sind oder depressiv, wir wissen es einfach nicht.

Für mich klingt das Ganze jetzt so, dass diese Personengruppe sehr heterogen ist. Ist das richtig?
Sie ist heterogen, ja. Wir haben in der Studie Personen gehabt, die bis zum Lebensende kognitiv intakt waren, einigermaßen gesund, sozial integriert und dann ging das Leben von einem Tag auf den anderen zu Ende. Daneben gab es aber auch Personen, die längere Zeit nicht ansprechbar waren. In diesem ganzen Spektrum bewegt sich das Leben im sehr hohen Alter. Insgesamt ist aber schon festzustellen, dass das Leben im höchsten Alter eher eine Phase von großer Gebrechlichkeit und großen Einschränkungen ist, aber auch von großer psychischer Stärke und psychischer Kraft, damit umzugehen.

Von dem bereits verstorbenen Schauspieler Martin Held stammt das bekannte Zitat: „Jeder will alt werden, aber keiner will es sein“. Nach all den Jahren als Wissenschaftler in Bereichen der Gerontologie, können Sie diesem Zitat zustimmen?
Wenn ich nicht Hundertjährigen-Forscher wäre, würde ich dem Zitat zustimmen. Von den Hundertjährigen habe ich etwas Anderes gelernt. Sie sagen: „Ich bin alt und es ist auch in Ordnung so. Und das Leben war lang genug …“ Viele sagen auch: „Ach, der liebe Gott hat mich vergessen!“ und „Das reicht jetzt auch…“. Dieses Nicht-Alt-Sein-Wollen, um die Gebrechlichkeiten und Einschränkungen des hohen Alters nicht erfahren zu müssen, das trifft bei den Hundertjährigen nicht zu. Der Satz hat für viele Gültigkeit, aber die Hundertjährigen sagen einfach: „Ja, ich bin alt.“

Was können wir von Ihrem Beitrag für das 42. NAR Seminar erwarten?
Ich möchte über die schon angesprochenen Bereiche körperliche und kognitive Funktionsfähigkeit berichten, auch über die psychischen Bereiche, wie die Älteren das Leben bewerten, und zwar in beiden Studien. Dann eben auch zeigen, in welchen Bereichen es Veränderungen gab und wo keine Veränderungen auftraten. Ich möchte auf die psychische Kraft der Lebensgestaltung eingehen und aufzeigen, dass es andere Mechanismen oder Modelle im hohen bzw. sehr hohen Alter gibt, mit dem Leben gut zurechtzukommen und es lebenswert zu finden. Ich werde auch kurz auf internationale Vergleiche eingehen, denn wir haben einige Instrumente auch in anderen Hundertjährigenstudien eingesetzt. Zu nennen sind Japan und Portugal. Es ist spannend zu untersuchen, ob es kulturelle Unterschiede in der Lebensbewertung im sehr hohen Alter gibt.

Ich bedanke mich bei Ihnen für das interessante Interview und freue mich auf Ihren Beitrag!

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 29.05.2019
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