Prof. Dr. med. Clemens Becker

 

Prof. Dr. med. Clemens Becker
Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart

Interview vom 19.09.2019
zum 43. NAR-Seminar "Herz und Sturz"

(durchgeführt von Nacera Belala)

 

 

 

Herr Prof. Becker, Sie haben für Ihren Vortrag die Worte von Gabriel García Márquez „Der erste Sturz bringt das Alter, der zweite Sturz bringt den Tod“ gewählt. Warum ausgerechnet diese Worte und was ist dran an der Aussage?

Ich habe es ausgewählt, weil das Zitat ein gesellschaftliches Stereotyp abbildet, wonach viele Ärzte und Laien davon ausgehen, dass Stürze Schicksal sind und dass man am schicksalhaften Ablauf im Hinblick auf die Prävention, Behandlung und Rehabilitation wenig und vielleicht sogar gar nichts ausrichten kann. In gewisser Hinsicht beschreibt der Schriftsteller in diesem Zitat mit einer nihilistischen Einstellung, dass mehr oder weniger fast alles im Alter zu spät kommt. Das wollte ich als Ausgangspunkt gerne wählen. Es hat sich viel geändert. Wir wissen auf Grund vieler kontrollierter Studien, dass es sehr viel Positives zu tun gibt.

Was sind Ihre Erfahrungen aus dem Praxisalltag in der Klinik hinsichtlich der Mobilität geriatrischer Patienten und Stürze?

Das ist ein sehr, sehr großes Thema. Man muss sagen, dass in allen deutschen Krankenhäusern für die Mobilisierung der Patienten viel zu wenig getan wird. Das betrifft die Zeit auf der Wachstation und Intensivstation genauso wie auf den peripheren Stationen. Es ist so, dass die Patienten ermuntert werden, im Bett zu bleiben und somit immobilisiert werden. Dadurch entstehen bei ihnen gravierende Folgeprobleme, sodass sie ihren Alltag nach einem Krankenhausaufenthalt oft nicht mehr richtig bewältigen können. Das betrifft an erster Stelle ältere Menschen, die möglicherweise die Treppe nicht mehr hoch- und herunterkommen oder nicht mehr alleine aus dem Bett aufstehen können. Da muss sich die Einstellung drastisch ändern. Um ein Beispiel zu nennen: Vor ungefähr 30 Jahren war es so, dass man Herzinfarktpatienten gesagt hat, sie sollten am besten vier Wochen im Bett verbringen und sich ausruhen, mit meist katastrophalen Folgen. Heute werden die Patienten spätestens am zweiten Tag mobilisiert. Es hat lange Zeit gedauert, um dieses Vorurteil aus der Welt zu schaffen. Und dies betrifft natürlich auch andere Krankheitsbilder, sei es Schlaganfall, Krebs oder chronische Lungenerkrankungen. Dafür braucht man komplett andere Handlungsabläufe. Es gibt viele Prozesse, die darauf ausgerichtet sind, die Patienten passiv im Zimmer und im Bett zu behalten, und nicht darauf ausgerichtet sind, Patienten wieder auf die Beine zu bringen.

Sind Sie denn der Meinung, dass sich diese Gegebenheiten, die Sie eben genannt haben, überhaupt ändern können, um mobilitätsfördernder zu werden, ohne dabei mehr Stürze zu provozieren?

Natürlich ist die Frage berechtigt, ob durch eine frühzeitige Aktivierung ein Sturzrisiko erhöht wird, und somit mehr Unfälle auftreten können. Es gibt aber dafür keinerlei Daten, die das belegen würden. Die perverseste Form einer Intervention ist es, die Leute ans Bett zu fesseln und zu fixieren, um zu verhindern, dass sie stürzen. Das ist beispielsweise in Hongkong oder Spanien tatsächlich exzessiv gemacht worden. In Deutschland war das zum Glück nicht ganz so schlimm. Man braucht gute Konzepte vor allem für die schwächeren Patienten. Entscheidend ist es, dass die Physiotherapie möglichst früh beginnt. Die Wirklichkeit ist eine andere. Im Rahmen der DRG-Einführung (Diagnosis Related Groups) wurden Hunderte, wenn nicht Tausende von Physiotherapiestellen abgebaut, weil die angemessene Mobilisierung des Patienten außerhalb der sogenannten Frührehabilitation erlösirrelevant ist. Das sind Folgeschäden der Finanzierungsvergütungssituation, die dazu geführt haben, dass Patienten schlechter mobilisiert werden als vor 15 Jahren.

Sie haben die Problematik seitens der Berufsgruppen angesprochen. Wie sieht es aus, wenn man sich die Patienten selbst anschaut? Denken Sie, dass sich Inaktivität im Alter auch erst im Alter entwickelt oder ist es eine Lebenseinstellung, die schon eher entsteht?

Die Frage ist berechtigt. Die Entwicklungen in der technischen Mobilität, also die Motorisierung der Mobilität, haben dazu geführt, dass sich das Bewegungsverhalten der Menschen in den letzten Jahrzenten deutlich verändert hat. Die Grundeinstellung hinsichtlich der Mobilität wird im Kindes- und Jugendalter sowie auch im frühen Erwachsenenalter während der Berufstätigkeit geprägt und dies sind riesige Themen, die gesellschaftlich thematisiert werden sollten.

Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: 1990 war es so, dass nach der Öffnung der DDR die Zahl der sturzbedingten Verletzungen dort 20-25% niedriger war als in den westlichen Bundesländern. Die Zahl der Hüftfrakturen war zum Beispiel deutlich niedriger. Die Leute sind viel mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und der Transport im Auto war nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Im Jahr 2005 war es so, dass die Hüftfrakturraten und die anderer Verletzungsarten durch sturzbedingte Verletzungen in den östlichen Bundesländern das Niveau des Westens erreicht hatten, weil viel mehr Auto gefahren wurde. Das ist ein Beispiel dafür, wie technische Mobilität auch erhebliche Negativkonsequenzen haben kann. Anders als vor 30 Jahren haben Kinder heutzutage deutlich weniger Bewegungsfreiheiten und weniger Bewegungskompetenz. Mobilität, Aktivität und Inaktivität sind Themen der Erziehung, des Berufslebens und große Themen nach der beruflichen Phase.

Sind Sie somit auch der Meinung, dass man dieses Thema vielleicht auch schon in den Schulen oder den fortführenden Ausbildungen thematisieren sollte, was Immobilität bewirkt und die Konsequenzen von Stürzen im Alter sein können?

Absolut. Die Organisation der Schule orientiert sich ja derzeit daran, dass ungefähr 90-minütige Blöcke von Inaktivität gekennzeichnet sind. Das ist aus meiner sowie aus bewegungstechnischer und gesundheitlicher Sicht falsch. Wir wissen, dass in der Regel bereits ab 45 Minuten Inaktivität toxische Effekte auftreten, und allein mit dieser Gestaltung bringen wir zum Ausdruck, dass diese Themen sekundär, wenn nicht sogar tertiär behandelt werden. Im Berufsleben ist ein gutes Beispiel, dass sehr viele der neuen großen Berufsfelder wie Informatik und andere Tätigkeiten mit sehr viel Sitzen verbunden sind und in der betrieblichen Gesundheitsförderung diese Themen praktisch keine Rolle spielen. In der Regel gibt es für viele Menschen unglaublich viele „Sitzungen“. Viele der Besprechungen kann man auch zu zweit im Gehen oder beim Spazieren durchführen.

Was würden Sie als langjähriger, erfolgreicher und sehr erfahrener Geriater für die Zukunft deutschen Krankenhäusern empfehlen?

Im Bereich der Demenz ist es gelungen, das Thema in der Gesellschaft sichtbar und hörbar zu machen. Dies sollte auch im Bereich der Mobilität möglich sein. Die Förderung der Mobilität vom zweiten Tag des Patienten im Krankenhaus an sollte erreicht werden, um Schaden von den Patienten abzuwenden. Das nächst Wichtige ist es, dass die vielen sehr guten Projekte der letzten zehn Jahre zur Bewegungsförderung und zur Sturzprävention nicht nur für Tausende von Leuten verfügbar gemacht werden, sondern wirklich auf der ganzen Bevölkerungsebene verfügbar sind. Das Dritte wäre es, dass wir bei den sturzbedingten Unfällen in der Akutbehandlung eine komplette Umstellung vornehmen. Nur durch Teamarbeit der Unfallchirurgie und der Altersmedizin lassen sich die bestmöglichen Ergebnisse für die Patienten erzielen.

Insofern wird am Ende meines Vortrages das Zitat eines anderen Nobelpreisträgers – nämlich von Nelson Mandela – stehen, der gesagt hat, er sei in seinem Leben so oft hingefallen und es sei für ihn nie eine Entmutigung gewesen. Er empfiehlt mindestens einmal mehr aufzustehen, als man hingefallen ist. Mit dieser positiven Haltung sollten wir uns dem Thema nähern!

Vielen Dank für Ihre Zeit und dieses interessante Gespräch! Wir freuen uns auf Ihren Vortrag im Dezember!

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 18.11.2019
zum Seitenanfang/up