Prof. Dr. Jürgen Bauer
Prof. Dr. Jürgen Bauer
Professor für Geriatrie der Universität Heidelberg, Agaplesion Bethanien Krankenhaus Heidelberg
Interview vom 15. Februar 2017 zum Vortrag
„Ernährung im Alter: Wichtig oder ganz egal?“
(durchgeführt von Liesa Katharina Hoppe)
Es gibt die Ernährungspyramide als Orientierung für eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Gelten diese Ernährungsempfehlungen auch für ältere Menschen oder gibt es da Unterschiede bzw. Abweichungen? Was sind im Allgemeinen die Grundpfeiler der Ernährung im Alter?
Prinzipiell ist die Deutsche Gesellschaft für Ernährung der Auffassung, dass die Ernährungspyramide für alle Erwachsenen gilt. Es gibt aber eine nicht unwesentliche Abweichung für ältere Menschen. Die überwiegende Zahl der Experten ist der Auffassung, dass ältere Menschen bezogen auf ihr Körpergewicht mehr Protein brauchen als jüngere Menschen, unter anderem um dem altersbedingten Abbauprozess im Bereich der Knochen und der Muskulatur entgegenzuwirken. Hier tut sich zwar bei den Empfehlungen aktuell etwas, jedoch ist man insgesamt weiterhin vorsichtig. Generell ist zu beachten, dass ältere Menschen weniger Energie brauchen, vor allem weil sie sich weniger bewegen und sich ihre Körperzusammensetzung verändert. Das stoffwelchselaktive Gewebe, insbesondere die Muskelmasse, nimmt ab. Dies sind die Hauptgründe für den geringeren Energiebedarf im Alter und nicht etwa die Zellalterung an sich. Eine besondere Gefahr liegt darin, dass Über-Achtzigjährige aus den oben genannten Gründen deutlich weniger Kalorien verzehren als jüngere Erwachsene, und der Proteinverzehr dabei absolut betrachtet zurückgeht. Wir haben zusammengefasst zum einen eigentlich einen Mehrbedarf an Proteinen. Zum anderen nehmen ältere Menschen aufgrund des rückläufigen Energiebedarfs oftmals de facto weniger Protein zu sich. Ältere Menschen meiden oftmals Fleisch. Das ist ok, denn man braucht nicht zwingend Fleisch, um den Proteinbedarf zu decken, man kann stattdessen auf Milch- und pflanzliche Produkte, die eiweißreich sind, zurückgreifen. Der Proteinverzehr ist somit ein entscheidender Fokus bei der Ernährung älterer Menschen.
Bei Vitaminen ist es so, dass Vitamin D sicherlich ein Problem im Alter darstellt. Das ist auch dem Altern an sich geschuldet. Die Hautalterung bedingt eine Abnahme der Zelldichte in der Haut und dadurch sinkt die Syntheseleistung für Vitamin D, das dort gebildet wird. Protein und Vitamin D sind ohne Zweifel zwei wichtige Themen für den gesunden älteren Menschen. Andere Themen sind sekundär. Bei kranken älteren Menschen verhält sich dies aber grundsätzlich anders.
Sie haben die geringe Proteinzufuhr als eines der zwei wesentlichen Probleme bei der Ernährung im Alter angesprochen. Daran möchte ich mit meiner nächsten Frage anknüpfen: Gerade macht vor allem in der jüngeren Bevölkerung die vegane Ernährung einen extremen Hype durch. Wie schätzen Sie diese Ernährungsform bei älteren Menschen ein? Bei veganer Ernährung gestaltet sich die Proteinzufuhr schließlich nochmals schwieriger.
Dies sehe ich sowie viele Ernährungsexperten sehr kritisch, da wir bislang einfach keine zuverlässigen Daten zur veganen Ernährung im Alter haben. Vegetarische Ernährung ist eine etablierte Kostform, der wir nicht im Wege stehen müssen. Da gibt es keine guten Gründe dafür. Sie setzt nur einen gut informierten Erwachsenen voraus, der verantwortlich mit sich selbst umgeht. Wir haben aber wirklich keine Erkenntnisse, wie sich die vegane Ernährung auf die Funktionalität im Alter auswirkt. Dabei haben wir unter Umständen auch das Problem, dass bei Hochbetagten durch vegane Ernährung die Füllmenge im Magen-Darm-Trakt vermehrt ist, weil sie sehr viele Ballaststoffe beinhaltet und dadurch starke frühzeitige Sättigungseffekte zustande kommen. Dies kann dann dazu führen, dass ältere Menschen zu wenig Energie und Nährstoffe aufnehmen, da sie zu früh satt werden. Wir haben uns doch über Jahrtausende ganz gut mit einer Mischkost entwickelt. Deshalb dürften extreme Ernährungsformen für das höhere Alter nicht geeignet sein. Es besteht für alle Diäten im Alter ein besonderes Risiko für eine Mangelernährung, da sie oftmals mit einem Verlust an Geschmacksintensität einhergehen, wie dies zum Beispiel bei einer fettarmen oder purinarmen Kost der Fall ist. Das bedeutet ein wesentlich erhöhtes Risiko gegenüber Jüngeren.
Eine Frage bezüglich des zweiten Problems, das Sie angesprochen haben – Vitamin D –, erachten Sie hier also eine Supplementierung aufgrund der altersbedingten Veränderungen in gewissen Fällen als sinnvoll? Wie ist es bei anderen Vitaminen?
Es gibt keine Empfehlung für die Multivitaminpille im Alter. Wir sehen die Indikation für eine Supplementgabe bei Vitamin D und bei einzelnen Patienten auch bei Vitamin B12. Denn es gibt im Alter einen erheblichen Anteil von Helicobacter-positiven Patienten. Das ist ein Keim, der im Magen siedelt und eine chronische Magenschleimhautentzündung hervorruft, wodurch die Vitamin B12-Resorption beeinträchtigt wird. Da sollte man ein bisschen wachsam sein gegenüber Vitamin-B12-Mangelzuständen, vor allem auch wenn Protonenpumpenblocker langfristig eingenommen werden, da diese Medikamente die Magensäureproduktion unterdrücken.
Sonst spielt die Vitamingabe via Pille bisweilen eine Rolle, wenn Menschen sehr gebrechlich werden und die Gesamtverzehrmenge immer weiter abnimmt. Wenn jemand nur noch weniger als 1200 Kcal zu sich nimmt – teilweise auch schon bei weniger als 1400 Kcal –, besteht keine Möglichkeit mehr, mit allen Vitaminen und Spurenelementen durch die natürliche Ernährung versorgt zu werden. Das kann im Einzelfall ein erhebliches Problem sein.
Weil im Gegensatz zum Energiebedarf der Nährstoffbedarf im Alter stabil bleibt …
Genau, der Nährstoffbedarf bleibt stabil, aber die Verzehrmenge nimmt ab. Daher braucht man gerade im Alter eine besonders hochwertige Ernährung.
Gerade weil bei uns am NAR das Thema Demenz bzw. Alzheimer besonders im Fokus steht: Gibt es eine bestimmte Art der Ernährung, um dieser Erkrankung vorzubeugen oder bei bereits Erkrankten, den dementiellen Abbau zu verlangsamen? Zum Beispiel eine erhöhte Einnahme von B-Vitaminen?
Um klare präventive Mechanismen bei der Ernährung zu identifizieren, dazu reicht einfach die Evidenz nicht. Wir haben zwar viele Beobachtungsstudien, die interessante Hinweise geben. Jedoch haben viele der Interventionsstudien, die sich an die Beobachtungsstudien angeschlossen haben, die Erwartungen nicht bestätigt. Dies betrifft auch die B-Vitamine und Folsäure. Es ist methodisch einfach schwierig mit Ernährungsstudien, denn unsere Ernährung ist komplex und besteht wahrlich aus mehr als zwei, drei Inhaltsstoffen. Die Fokussierung auf einzelne Substanzen stellt somit eine erfolglose Simplifizierung eines hochkomplexen Teils unseres Lebensstils dar, sodass wir einfache Botschaften für eine Demenzprophylaxe nicht senden können.
Was sicherlich wichtig ist, ist von allem etwas zu essen. Diäten bergen auch in diesem Bereich immer Risiken und diese sollte man minimieren. Es gibt immer wieder unterhaltsame Beobachtungsstudien zu einzelnen Nahrungsmitteln. Das kann zum Beispiel Kaffee betreffen oder Schokolade. Aber man bleibt im Großen und Ganzen skeptisch. Viel wichtiger ist es aber, dass man bei Patienten mit beginnender Demenz das Körpergewicht regelmäßig überprüft, nicht täglich, jedoch ein oder zwei Mal wöchentlich. Denn eine Gewichtsabnahme ist ein schlechter Prognosefaktor für den Verlauf der Demenz, weil damit eben Sarkopenie, Muskelschwund, und Osteopenie, also eine Schwächung der Knochenstruktur, einhergehen und natürlich zu einer schlechteren Krankheitsentwicklung führen. Man sollte beachten, dass der Patient gut ernährt bleibt, mit allen Makro- und Mikronähstoffen. Alle Faktoren, die einen Mangel bedingen, sollten vermieden werden, und ganz besonders bei Demenzpatienten, die zu 50 Prozent für eine Mangelernährung gefährdet sind. Ernährung und Demenz – das ist ein großes Thema, aber es geht hier eher um die Vermeidung von Ernährungsmangelzuständen als um protektive Faktoren.
Das bedeutet, dass bei älteren Menschen mit erhöhtem Demenzrisiko sowie besonders bei bereits Erkrankten eine ausreichende Ernährung besonders wichtig ist und durch die Überwachung des Körpergewichts regelmäßig kontrolliert werden sollte?
Genau, besonders auch nach der Diagnose einer Demenz, sollten Mangelzustände unbedingt vermieden werden, da diese anderenfalls zum frühen Einbruch der Selbständigkeit führen, indem sie die altersbedingten Abbauprozesse, unter anderem Sarkopenie und Osteoporose, begünstigen. In diesem Kontext wird dann der ohnehin schwierige Verlauf der Grunderkrankung Demenz durch komplikative Situationen, wie zum Beispiel eine Fraktur, nochmals verschlechtert. Deshalb ist die Vermeidung von Mangelzuständen bei Demenzpatienten extrem wichtig und ganz entscheidend für den Erhalt der Selbständigkeit.
Nicht zuletzt auch aufgrund der von Ihnen erwähnten komplikativen Situationen haben ältere Menschen ein höheres Risiko, dass Ihnen ein Krankenhausaufenthalt bevorsteht. Die Qualität der Kost in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen hat im Allgemeinen einen eher schlechten Ruf. Ist da eine Änderung in Sicht? Inwieweit planen Sie in diesem Bereich Umstrukturierungen, gerade auch im Hinblick auf die Entwicklung einer modernen Geriatrie?
Es ist so, dass ich gemeinsam mit den Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, hoffe, dass wir dafür in Zukunft die politische Unterstützung für eine Verbesserung der Situation gewinnen können. Wir haben allerdings das Problem, dass zum Beispiel die Hygiene im Krankenhaus berechtigterweise sehr stark im Fokus steht, aber wir brauchen eben auch einen stärkeren Fokus auf die Ernährung. Natürlich muss diese Leistung auch vergütet werden, denn die Krankenhäuser können Dinge nicht leisten, die nicht bezahlt werden. Und deswegen müssen wir dieses Thema angehen, weshalb wir auch mit politischen Stakeholdern, also Entscheidern, zusammenarbeiten, um die Ernährung im stationären Bereich besser abgebildet zu bekommen. Aber dies sind keine Dinge, die wir morgen erledigt haben werden. Wir sind jedoch ein bisschen hoffnungsvoller als noch vor ein paar Jahren. Unsere Nachbarn sind da schon weiter: Sowohl die Dänen als auch die Niederländer haben den Sektor Krankenhausernährung schon viel stärker im Fokus als wir.
Haben Sie eventuell noch einen abschließenden Tipp: Im Alter nimmt ja auch der Appetit sehr stark ab. Wie kann man bei älteren Menschen, die Bereitschaft zum Essen erhöhen?
Also ganz wichtig, etwas Banales, was man vergisst, – Geselligkeit. Es ist unglaublich, wie stark die Effekte der Gemeinschaft auf das Essverhalten sind. Wir müssen uns immer klar machen, dass die Einsamkeit im Alter sicherlich ein begünstigender Faktor für eine Mangelernährung ist. Mangelernährung im Alter hat eine ganz andere Bedeutung als in jungen Jahren, weil sie eben den funktionellen Abstieg bahnt. Somit ist die Geselligkeit und die Gemeinschaft beim Essen ein wesentlicher Faktor, der eine Mangelernährung verhindern kann. Obwohl der Appetit im Alter geringer ist, führt die soziale Komponente dazu, dass die Patienten tatsächlich mehr essen, das ist bewiesen. Diesen Gedanken des gemeinsamen Essens würde ich als wichtige Botschaft sehen.
Und der Respekt vor der Ästhetik des Essens ist gleichermaßen außerordentlich wichtig. Man sollte nicht denken, irgendjemandem irgendetwas hinzustellen, was nicht ansprechend aussieht. Das Ambiente und die Ästhetik des Essens schließt eben auch das Drumherum mit ein: Teller, Besteck, Servietten, Tischdecke, eventuell ein paar Blümchen auf dem Tisch. Das wird alles wahrgenommen und integriert in den Eindruck des Essens. Das sind wichtige Bestandteile, die man sehr lange unterschätzt hat. Zudem sollte das Essen natürlich auch schmackhaft sein. Im Alter nimmt das Geschmacksempfinden ab, weshalb wir Verstärkungseffekte über die Optik und den Geruch des Essens erzeugen sollten. Es braucht schmackhaftes, wirklich attraktives Essen im Kreise der Familie oder einer sonstigen vertrauten Gemeinschaft, damit der Tendenz zum Wenigeressen entgegengearbeitet wird.