Prof. Dr. Walter E. Haefeli
Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie, Universitätsklinikum Heidelberg
Interview vom 23. November 2015 zum Vortrag „Arzneimitteltherapie im Alter – sieben kritische Fehler sind zu vermeiden" (durchgeführt von Birgit Teichmann)
Wegen der zunehmenden Multimorbidität im Alter, nehmen Menschen, je älter sie sind, umso mehr Medikamente ein. Welche Risiken verbergen sich hier möglicherweise?
Herausforderungen für die verschreibenden Ärzte und die daraus resultierenden Mängel und Risiken (in Klammer) sind,
- alle wichtigen Medikamente zu verschreiben (Underuse vermeiden),
- gefährliche Konstellationen zu verhindern (potenziell inadäquate Medikation, Fehldosierungen bei Ausscheidungsstörungen wie Niereninsuffizienz oder Wechselwirkungen),
- den Überblick zu behalten (vollständiger Medikationsplan wäre hier sehr hilfreich),
- die Therapie auf die Lebenssituation des Patienten abzustimmen (Nutzen muss erlebbar und dem Patienten wichtig sein) und
- die Durchführbarkeit für den Patienten sicherzustellen (gefährliche oder unwirksame Handhabung vermeiden).
Herausforderungen für die Patienten und ihre Angehörigen und die daraus resultierenden Behandlungsziele (in Klammer) sind,
- die Therapien zu mindestens 80 % durchzuführen (als Ritual im Alltag verankern, Adhärenz, Persistenz, mit komplexen Therapieschemata zurechtzukommen),
- die Medikamente richtig anzuwenden (richtige Handhabung von Devices, keine Modifikation der Darreichungsformen, richtige Schluck-, Inhalations- und Injektionstechnik),
- von einer willkürlichen Veränderung der Dosierungsschemata abzusehen (kein Modifying)
- mit dem Wechsel zwischen Herstellern zurechtzukommen (trotz Rabattverträgen adhärent bleiben),
- stets einen aktuellen und für Dritte lesbaren Medikationsplan zu besitzen (Transparenz der aktuellen Behandlungssituation) und
- die persönlichen Präferenzen zu kommunizieren (Individualisierung der Therapien unterstützen).
Gibt es spezielle Medikamente für „Ältere“ oder reicht es, die Dosis aufgrund des veränderten Stoffwechsels anzupassen?
Es gibt bisher keine Medikamente, die sich besonders für die Behandlung betagter Patienten eignen, während sie bei jüngeren nicht wirksam wären. Selbstverständlich gibt es aber Krankheiten, die typischerweise im höheren Alter auftreten (z.B. benigne Prostatahyperplasie, Demenz) und damit auch Medikamente, die vorwiegend bei älteren Patienten eingesetzt werden.
Außerdem ist es richtig, dass für viele Substanzen altersabhängige Risiken beschrieben sind, z. B. Prasugrel, oder – wegen Einschränkungen der Ausscheidungsleistung (durch Stoffwechsel oder Niere) – geringere Erhaltungsdosen empfohlen werden, z. B. bei gewissen neuen oralen Antikoagulanzien. Zusätzlich kann auch die Empfindlichkeit auf Medikamente im Alter höher sein, weshalb nicht allein der reduzierte Stoffwechsel zu Dosisreduktionen führen sollte, z. B. bei psychotropen Substanzen.
Werden ältere Menschen bei klinischen Studien zur Wirksamkeit der Medikamente berücksichtigt?
Aus mannigfaltigen Gründen werden ältere Patienten mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Wirksamkeitsstudien aufgenommen als jüngere Patienten, obwohl nicht gesichert ist, dass sie in gleicher Weise auf spezifische Arzneistoffe reagieren werden wie jüngere Patienten. Das ist leider nach wie vor ein Missstand in der Evidenzlage. Schätzungen gehen davon aus, dass in solche Studien anteilig höchstens 25 % der dafür geeigneten Patienten rekrutiert werden. Dem Problem wird allerdings zunehmend Rechnung getragen, was nicht zuletzt Bedeutung in der Behandlung von Tumoren hat.
Wie wird Unter- oder Übergewicht bei der Wirksamkeit der Medikamente berücksichtigt?
Für die Dosierung der meisten Medikamente spielt das Körpergewicht keine entscheidende Rolle; trotzdem gibt es eine Reihe von Arzneistoffen, die nach Körpergewicht oder Körperoberfläche dosiert werden, z. B. zahlreiche in der Onkologie verwendete Substanzen, einige niedermolekulare Heparine, Zytokine wie Interferon, oder deren Dosierung bei niedrigem Gewicht (z. B. <60 kg) reduziert werden muss, um unerwünschte Ereignisse zu vermeiden, z. B. gewisse neue orale Antikoagulanzien.
Schlecht untersucht ist die Frage, ob beispielsweise gebrechliche Patienten, die oft ein relativ geringes Körpergewicht haben, andere Dosen benötigen als nicht gebrechliche Menschen. Zumindest für einzelne Medikamente ist gezeigt, dass die Verträglichkeit tatsächlich schlechter ist, weshalb generell zu einer Dosistitration ausgehend von niedrigen Startdosen geraten wird.
Welche „Systeme“ gibt es, die dem Patienten eine Rückmeldung geben, ob verschiedene Medikamente miteinander wechselwirken oder ein zusätzlich eingenommenen rezeptfreies Medikament zu unerwünschten Wechselwirkungen mit den bereits verschriebenen Medikamenten führt, d.h. dessen Wirkung erhöht oder schwächt?
Es gibt zwar öffentlich zugängliche Software-Systeme, welche auch Auskunft an medizinische Laien geben, z. B. auf der Homepage der Apothekenumschau: http://www.apotheken-umschau.de/Medikamente/Wechselwirkungscheck, doch bezweifle ich, dass medizinische Laien mit solcher Information viel anfangen können. Der meines Erachtens bessere Weg wäre, diese Fragen an einen Heilberufler zu richten (Hausarzt oder Apotheker), um nicht Fehlschlüsse zu ziehen. Wenn zwei Substanzgruppen herausgegriffen werden sollen, bei denen solche Klärungen unbedingt notwendig sind, so wären das Johanniskrautpräparate, die häufig die Wirksamkeit der übrigen Therapie herabsetzen, und die rezeptfreien Schmerzmittel, die in Kombination mit Blutverdünnern zu Blutungen, in Kombination mit blutdrucksenkenden Mitteln zu Nierenfunktionsstörungen und Elektrolytentgleisungen führen können.
Gibt es Empfehlung für die Einnahme verschiedener Medikamente während einer Hitzewelle?
Hitzewellen führen zu Lethargie (Immobilität), Flüssigkeitsverlust (erhöhter Flüssigkeitsbedarf bzw. vermehrte Wassereinsparung durch die Nieren), Hypovolämie und Temperaturanstieg (Hyperthermie). Besondere Risiken von Medikamenten in Hitzewellen entstehen deshalb dann, wenn harntreibende Medikamente verabreicht werden, ohne die verminderte Flüssigkeitsaufnahme zu berücksichtigen, bspw. bei vermindertem Durstgefühl, oder wenn die Thermoregulation eingeschränkt ist, z. B. durch vermindertes Schwitzen. Begünstigend können ACE-Hemmer sein, welche das Durstgefühl reduzieren und Substanzen, welche das Schwitzen verringern: anticholinerge Medikamente, wie z. B. trizyklische Antidepressiva oder Neuroleptika. Im Allgemeinen lautet aber die Empfehlung, sich leicht zu kleiden und unbedingt eine ausreichend große Flüssigkeitszufuhr sicherzustellen. Risikosituationen erkennt man u.a. an Anstiegen von Puls und Körpertemperatur.
Was kann der ältere Patient selbst tun, um eine optimale Versorgung mit Medikamenten zu erhalten?
Zeitmangel ist die größte Last des Heilberuflers; entsprechend muss es im Sinne des Patienten sein, die spärliche gemeinsame Zeit maximal zu nutzen und alle Information, die gewünscht ist, als Patient zu erhalten, aber auch dem Arzt zu liefern. Für Heilberufler ist die lückenlose Information über die aktuelle Behandlung von unschätzbarem Wert, die Vorbereitung dieser Information eine maximale Zeitersparnis. Entsprechend ist es sehr ratsam, dass diese Information in Form eines nach üblichen Kriterien aufgebauten und aktuellen Medikationsplans in jedes Gespräch mitgebracht wird. Dabei sollte auch klarwerden, welche Medikamente ggf. nicht eingenommen werden und warum.
Eine optimale Vorbereitung jedes Kontakts mit einem Heilberufler besteht deshalb aus folgenden Dingen:
- Ein aktueller Medikationsplan wird mitgebracht, um mit wenig Aufwand Klarheit zu schaffen.
- Der Patient ist vorbereitet auf die Frage, ob er die Medikamente alle so wie verschrieben einnimmt. Hier ist eine ehrliche Antwort wichtig, denn die Ärzte wissen, dass viele Patienten die Medikamente aus unterschiedlichen Gründen nicht einnehmen (können). Abhilfe kann aber nur geschaffen werden, wenn darüber gesprochen und verhandelt wird (Adhärenz).
- Der Patient ist vorbereitet auf die Frage, ob er Nebenwirkungen beobachtet, die er mit den Medikamenten in Zusammenhang bringt.
- Es wäre zudem schön, wenn mehr Patienten äußern könnten, was sie momentan am meisten bedrückt und deshalb am ehesten einer Lösung bedarf (Patientenpräferenzen). Das würde helfen, Therapien sinnvoll zu fokussieren.