Dipl. Pflegewirtin (FH) Charlotte Berendonk
Graduiertenkolleg Demenz, NAR, Universität Heidelberg
Interview vom 25. März 2013 von Birgit Teichmann
Was versteht man unter Biografiearbeit?
Um den Begriff der Biografiearbeit erklären zu können, möchte ich kurz etwas zum Biografiebegriff sagen. Biografie bzw. Lebensgeschichte bezieht sich auf die subjektive Darstellung des eigenen Lebenslaufs und der erlebten Zeit. Mit dem Lebenslauf wird im Allgemeinen eher der Verlauf eines Lebens dargelegt, z. B. der Geburtsort, der Schulabschluss, der berufliche Werdegang. Mit der Biografie beschreibt jede Person ihre eigene Sicht auf ihr Leben. Das sind zum Beispiel Erfahrungen und Erlebnisse, die für sie individuell bedeutsam waren und mit denen Emotionen verbunden sind. Wir sollten uns bewusst machen, dass die Biografie in jeder Erzählung zusammen mit dem jeweiligen Gesprächspartner neu konstruiert wird.
Wir alle sind unsere gelebte Lebensgeschichte, d.h. zum einen ist unsere Biografie durch unsere Erinnerung im autobiographischen Gedächtnis gespeichert. Zum anderen ist diese aber auch im Leibgedächtnis verankert, d.h. all das, was wir gewohnheitsmäßig machen, unsere Rituale, vertraute Handlungen usw., ist in einem impliziten Teil des Gedächtnisses abgelegt. Diese Aspekte unserer Biografie können wir oft auch gar nicht in Worte fassen. Wenn wir gefragt werden, was unsere Biografie ist, vergessen wir häufig unsere Gewohnheiten und erinnern uns eher an verschiedenen Ereignisse aus der Schulzeit, dem frühen Erwachsenenalter usw.
Im Rahmen der Biografiearbeit wird gezielt nach bedeutsamen Erinnerungen, Interessen, Vorlieben, Gewohnheiten usw. der zu pflegenden Person gesucht. Auf diese Weise möchten Pflege- und Betreuungspersonen die zu pflegende Person kennen lernen und herausfinden, welche individuellen Maßnahmen zur Förderung der Lebensqualität für diesen Menschen aus den Informationen abgeleitet werden können.
Inwieweit erleichtert eine gute Biografiearbeit, bzw. die Kenntnis der Biografie der Menschen mit Demenz die Pflege?
In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist Biografiearbeit ein bedeutsames Konzept. Das aktuelle Erleben der Menschen mit Demenz ist geprägt durch vergangene Erfahrungen und kann deshalb erst durch das Wissen über die Biografie des Individuums verstanden, eingeordnet und beeinflusst werden. Ohne die Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Hintergründe bleiben die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz häufig unerkannt oder werden falsch interpretiert, was dann ihr Wohlbefinden bedroht oder reduziert.
In der Literatur und auch in den im Rahmen meines Promotionsprojektes geführten Interviews wurde deutlich, dass das Verständnis für das Verhalten der Menschen mit Demenz größer wird. Wenn ich jetzt auf meine Interviews zurückblicke, dann haben mir Interviewteilnehmer häufig gesagt, dass sie, wenn sie über das Leben einer Person eine gewisse Kenntnis haben, Verhaltensweisen besser verstehen können. Zeigt ein Mensch mit Demenz z. B. Verhaltensweisen, die mit dem Berufsleben zu tun haben, können die Pflegende diese erst verstehen, wenn sie das Wissen über die berufliche Tätigkeit haben. Ein anderes Beispiel sind Gewohnheiten. Eine Studienteilnehmerin berichtete, dass das Team sehr irritiert gewesen sei, weil eine Bewohnerin nachts nicht ins Bett gehen, sondern in ihrem Sessel schlafen wollte. Erst durch den Austausch mit den Angehörigen wurde deutlich, dass dies ihre seit Jahren gewohnte Schlafposition ist. Daraufhin konnten die Mitarbeitenden anders mit der Situation umgehen.
Ein größeres Verständnis für die zu pflegende Person ist ein Aspekt der Biografiearbeit. Der andere Teil ist aber auch, dass man gezielt Maßnahmen zum Erhalt des Wohlbefindens in die Pflege mit einfließen lassen und dadurch eine individuelle Pflege erreichen kann. Wenn eine Pflegende z.B. weiß, jemand hat über dieses oder jenes gerne gesprochen, kann sie das Thema in der Interaktion gezielt ansprechen, wenn der Menschen mit Demenz es nicht mehr von sich aus initiieren kann. Auf diese Weise kann die Pflegende versuchen, sein Wohlbefinden in der aktuellen Situation zu verbessern.
Kann es sein, dass es Menschen gibt, die ganz froh sind, ihre Vergangenheit vergessen zu haben, sei es, weil sei mit vielen Verlusten konfrontiert wurden, sei es, weil sie aus einem anderen Grund ihrer Vergangenheit entkommen wollen?
Auf jeden Fall! Dies gilt es zu respektieren. Es gibt immer Personen, die sagen: Ich möchte mich nicht mitteilen. Oder ich möchte nicht, dass die Informationen schriftlich dokumentiert werden. Das ist völlig berechtigt und sollte auch von allen Seiten akzeptiert werden.
Auch dies war ein Thema in den Interviews. Die Gesprächspartner erwähnten, dass sie sehr sensibel vorgehen und sich langsam vortasten müssen, da biografische Informationen etwas Privates sind. Man sollte auch nicht am ersten Tag mit einem Biografiebogen ankommen und dann die Informationen einfordern, sondern es braucht Vertrauen. Die Pflegenden berichteten in den Interviews auch, dass die Menschen mit Demenz unterscheiden, wem sie was erzählen. Mitarbeitende in einem Pflegeteam haben demnach nicht alle denselben Wissensstand, sondern je nach Sympathie, je nach Beziehung, die sich entwickelt, wissen sie auch Unterschiedliches von den Menschen mit Demenz.
Kann es nicht auch gefährlich sein, wenn ich ein bestimmtes Wissen über eine Person habe, dass ich dann vielleicht nicht sensibel genug für Änderungen seiner Vorlieben bin?
Hierfür bedarf es einer gewissen Offenheit. Davon berichteten Studienteilnehmende ebenfalls: Nur weil sie Wissen darüber haben, was jemanden vor 30 Jahren interessierte, heißt es definitiv nicht, dass dies in der aktuellen Situation zutrifft. Ein Beispiel aus den Gesprächen lautete, dass das frühere Hobby eines Bewohners, Skat zu spielen, in der aktuellen Situation nicht mehr von Bedeutung gewesen sei. Stattdessen entwickelte die Person neue Interessen, z. B. die Beschäftigung mit dem Computer.
Die in der Lebensgeschichte bedeutsamen Interessen, Vorlieben und Gewohnheiten sollten mit denen der gegenwärtigen Situation verglichen, die aktuelle Bedeutsamkeit ermittelt und entsprechend flexibel auf Veränderungen reagiert werden. Musikalische Vorlieben sind hierfür ein weiteres Beispiel. Einige Pflegende berichteten, dass sie von den Angehörigen erzählt bekommen hatten, dass der Mensch mit Demenz in seinem Leben nie gerne gesungen habe. Die Mitarbeitenden beobachteten jedoch, dass die Person jetzt daran Spaß hatte, in der Gruppe zu singen.
Meiner Ansicht nach ist es deshalb wichtig, dass Pflegende offen sind für mögliche Veränderungen. D.h. sie sollten reflektieren, welches Wissen sie über biografisch bedeutsame Vorlieben usw. haben, und was für die Person im Moment wichtig ist Diese Informationen sollten immer wieder aktualisiert werden, z. B. durch den Austausch im Team oder Beobachtungen. Daher ist es meiner Ansicht nach nicht unbedingt zielführend, nach dem Einzug eines Bewohners mithilfe des Biografiebogens viele Informationen im Sinne eines Lebenslaufes zu erheben. Stattdessen sollte die Informationssammlung fortlaufend passieren, niemals als abgeschlossen betrachtet werden, sondern als ständiger Prozess, um die sich verändernden Bedeutsamkeiten wahrzunehmen.
Welche Tipps würden Sie Angehörigen von Menschen mit Demenz geben, um vielleicht den Pflegenden die Pflege zu erleichtern oder die Biographiearbeit zu erleichtern? Oder gibt es vielleicht Anregungen für alle Menschen, auch wenn sie noch nicht von Demenz betroffen sind, um schon mal vorzuarbeiten, dass die Angehörigen etwas über deren Biographie wissen?
Pflegende Angehörige könnten aus meiner Sicht reflektieren, welche Erinnerungen an die eigene Biografie für den Menschen mit Demenz positiv bedeutsam sind. Das sind z. B. Erinnerungen, an denen eine Person Freude hat oder die häufig von ihm angesprochen werden. Darüber hinaus wäre es wichtig, zu überlegen, welche Momente in der gegenwärtigen Situation als positiv erlebt werden. Das sind möglicherweise Situationen, in denen jemand Interesse zeigt, entspannen kann oder herzlich lacht. Wenn die Pflegenden darüber Informationen erhalten, können sie die Pflege individueller gestalten und die Lebensqualität der Person gezielt fördern.
Übertragen auf uns alle sind hier gewisse Parallelen zu entdecken. Wenn wir überlegen, wie wir versuchen, unseren Alltag positiv zu gestalten, dann versuchen wir uns immer wieder Situationen zu gönnen, die uns gut tun. Das sind häufig kleinere oder kürzere Situationen. Es sind selten Ereignisse, die einen ganzen Tag ausfüllen, sondern eher kürzere Momente: Z. B indem ich mir eine heiße Schokolade mache, mich zum Kaffee trinken verabrede, ins Kino oder gehe, mir Zeit nehme, ein gutes Buch zu lesen, mir selber einen schönen Blumenstrauß kaufe oder ein Glas Wein zum Essen einschenke. Und diese Kleinigkeiten sollten wir uns bewusst machen und als wichtige Momente, die den Alltag bereichern, unseren Bezugspersonen mitteilen. Denn das sind die Momente, die später für die Pflege wichtig werden könnten, wodurch diese individuell gestaltet werden kann. Diese individuellen Unterschiede sind sehr bedeutsam.
Es sind diese Kleinigkeiten, die unseren Alltag ausmachen und die wir uns deutlicher vor Augen führen sollten. Wir sollten frühzeitig mit unseren Bezugspersonen darüber sprechen, was für uns eine Bedeutung hat, wie wir uns immer wieder etwas Gutes tun und welche Gewohnheiten für uns wichtig sind.
Charlotte Berendonk studierte Pflege an der HS Fulda und erwarb 2006 ihren Abschluss als Diplom-Pflegewirtin (FH). Im Anschluss daran arbeitete sie dreieinhalb Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg in einem Pflegeforschungsprojekt. Vor ihrem Studium absolvierte sie in Stuttgart das Examen zu Altenpflegerin (2002). Sie arbeitete bis 2009 in unterschiedlichen Stellenumfängen in der stationären Altenpflege. Seit einigen Jahren führt sie Schulungen zur Pflege von Menschen mit Demenz in der stationären Altenpflege sowie in einer Einrichtung der geriatrischen Rehabilitation durch.
Sie ist seit März 2010 Stipendiatin im Graduiertenkolleg Demenz am Netzwerk AlternsfoRschung, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit den Subjektiven Theorien Pflegender über die Biografiearbeit mit Menschen mit Demenz.
Für sie individuell bedeutsame Momente sind die Zeit mit ihrem Mann, der Familie und Freunden, Sport und ein schönes Abendessen in ihrem Lieblingsrestaurant.