Pharmazie

Li-Ju Chen, Apothekerin
Abteilung für Klinische Epidemiologie und Alternsforschung
Deutsches Krebsforschungszentrum

Im Neuenheimer Feld 581
69120 Heidelberg

Tel: +49 (0)6221 42 1304
li-ju.chen(at)dkfz-heidelberg.de

2. Affiliation: Netzwerk AlternsfoRschung, Fellow: Dr. Ben Schöttker PD

Polypharmazie und potenziell ungeeignete Medikamente bei älteren Darmkrebspatienten

Zusammenfassung der Doktorarbeit

Unter potenziell inadäquater Medikation (PIM) versteht man Arzneimittelverordnungen bei älteren Erwachsenen, die ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweisen. Ein Instrument zur Er-fassung von PIM ist die FORTA-Liste, die nicht nur die PIM-Verwendung, sondern auch die Über- und Unterversorgung mit Medikamenten erfasst. Polypharmazie, meist definiert als gleichzeitige Einnahme von 5 oder mehr Medikamenten, ist in den meisten umfassenden geriatrischen Beurteilungsinstrumenten enthalten, um den Gesundheitsstatus von älteren, gebrechlichen Patienten zu erfassen. Der Zusammenhang zwischen Polypharmazie und PIM mit relevanten klinischen Endpunkten bei älteren (Darm-)Krebspatienten war jedoch unklar. Ein Ziel der Dissertation war es, eine systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse von Beobachtungsstudien über den Zusammenhang zwischen der Verwendung von PIM und Polypharmazie und klinischen Endpunkten bei älteren Krebspatienten durchzuführen. In meinen eigenen Datenanalysen bewertete ich die Zusammenhänge zwischen der Verwendung von PIM, der Über- und Unterversorgung mit Medikamenten (alle bewertet mit der FORTA-Liste) und der Polypharmazie mit der Überlebens-zeit und chemotherapiebedingten unerwünschten Arzneimittelwirkungen in einer großen Kohorte älterer Darmkrebspatienten. Darüber hinaus habe ich untersucht, ob die Hinzunahme des funktionellen Status, des Charlson-Komorbiditätsindex (CCI), des Frailty-Index (FI), der Polypharmazie oder des FORTA-Gesamtscores den Vorhersagewert eines Referenzmodells, das Alter, Geschlecht, Tumorstadium und Tumorlokalisation enthält, für die Überlebenszeit bei Darmkrebspatienten verbessert.

Einschlägige Studien für die systematische Übersichtsarbeit wurden in den Datenbanken PubMed und Web of Science recherchiert. Die Meta-Analysen wurden mit einem Modell mit zufälligen Effekten durchgeführt. Zunächst wurden 42 Publikationen in die systematische Übersichts-arbeit aufgenommen. Meta-Analysen konnten mit 39 Studien zu Polypharmazie und 13 Studien zu PIM durchgeführt werden. Es zeigte sich, dass Polypharmazie statistisch signifikant mit der Gesamtmortalität (Relatives Risiko [95%-Konfidenzintervall (95%KI)]: 1,37 [1,25-1,50]), einer Hospitalisierung (1,53 [1,37-1,71]), chemotherapiebedingter Toxizität (1,22 [1,01-1,47]) und postoperativen Komplikationen (1,73 [1,36-2,20]) assoziiert ist. Der Zusammenhang zwischen Polypharmazie und einer verlängerten Hospitalisierungsdauer war mit dem Signifikanzniveau p<0,05 statistisch nicht signifikant (1,62 [0,98-2,66]). In Bezug auf PIM wurde ein statistisch signifikanter Zusammenhang mit der Gesamtmortalität (1,43 [1,08-1,88]), nicht aber mit anderen unerwünschten Ereignissen festgestellt. Diese Ergebnisse sind jedoch mit Vorsicht zu interpretieren, da etwa drei Viertel der identifizierten Studien nicht für Komorbidität adjustiert wurden und somit die Gefahr besteht, dass die Ergebnisse durch Counfounding by indication verfälscht werden.

Für meine eigene Datenanalynalyse wurden die Daten von 3.239 Darmkrebspatienten im Alter von 65 Jahren und älter aus der DACHS-Studie für Überlebenszeitanalysen und 1.209 Patienten für Analysen zu chemotherapiebedingten unerwünschten Nebenwirkungen verwendet. Die Hazard Ratios (HRs) [95%-KI] für den FORTA-Gesamtscore ≥ 7 vs. 0-1 Punkte betrugen 1,83 [1,40-2,40] und 1,76 [1,22-2,52] für das 5-Jahres-Gesamtüberleben (OS) bzw. das Darmkrebs-spezifische Überleben (CSS). Ein schlechteres 5-Jahres-OS und CSS wurde auch für die FORT-A-Sub-Scores für PIM und die Medikationsüberversorgung festgestellt, während für die Unter-versorgung mit Medikamenten kein Zusammenhang beobachtet wurde. Obwohl die Ergebnisse für den FORTA-Gesamtscore und den PIM-Sub-Score bei den Patienten, die eine Chemotherapie erhielten, wesentlich stärker ausfielen, wurde kein signifikanter Zusammenhang mit chemotherapiebedingten unerwünschten Ereignissen festgestellt. Außerdem waren im Vergleich zu Frauen und Patienten mit Kolonkarzinom die Assoziationen bei Männern und Patienten mit Rektumkarzinom besonders stark ausgeprägt. Für die Analysen zur Polypharmazie wurde dieselbe Studienpopulation aus der DACHS-Studie verwendet. Die Prävalenz der Polypharmazie (gleich-zeitige Einnahme von 5 oder mehr Medikamenten) lag bei 54,7 % und die der exzessiven Poly-pharmazie (EPP, gleichzeitige Einnahme von 8 oder mehr Medikamenten) bei 24,2 %. Während der bis zu 5 Jahre dauernden Nachbeobachtung starben 1.070 Teilnehmer, von denen 615 an Darmkrebs und 296 an anderen Erkrankungen als Krebs starben. Die EPP war statistisch signifikant mit einem schlechteren 5-Jahres-OS (HR [95%KI]: 1,23 [1,02-1,47]) und CSS (1,31 [1,03-1,68]) assoziiert. Die HR-Punktschätzung für das nicht krebsspezifische Überleben war höher als 1 (1,22), aber statistisch nicht signifikant.

Die Analyse zur Vorhersage des Überlebens von Darmkrebs wurde mit n=3,410 Patienten aller Altersgruppen aus der DACHS-Studie durchgeführt. Das Referenzmodell plus Funktionsstatus wurde als bestes Modell für die Vorhersage des Überlebens bei allen Darmkrebs-Patienten (Fläche unter der Kurve (AUC): 0,768) und bei jüngeren Darmkrebs-Patienten (AUC: 0,820) ermittelt. Bei älteren Darmkrebspatienten sollte zusätzlich der CCI berücksichtigt werden (AUC: 0,747). Für das nicht krankheitsspezifische Überleben (nDSS) hatte das Referenzmodell plus CCI und FI bei allen Darmkrebspatienten den besten prädiktiven Wert (AUC: 0,776). Für die Endpunkte krankheitsfreies Überleben (DFS) (AUC: 0,727), krankheitsspezifisches Überleben (DSS) (AUC: 0,838) und rezidivfreies Überleben (RFS) (AUC: 0,784) war das Referenzmodell bei allen Darmkrebspatienten bereits das beste Modell, da keine signifikanten Verbesserungen bei der Nettoreklassifizierung beobachtet wurden. Das Muster "Je weniger Darmkrebsspezifisch dar Endpunkt und je älter die Darmkrebspatienten sind, desto relevanter ist die Einbeziehung geriatrischer Assessments wie dem Funktionsstatus, dem CCI und dem FI in Darmkrebsüberleben-Prognose-Scores“ wurde beobachtet. Komedikationsbezogene Faktoren (Polypharmazie und FORTA-Score) spielten bei der Überlebensprognose von Darmkrebs-Patienten jedoch keine so wichtige Rolle wie der funktionelle Status, der CCI und der FI.

Insgesamt empfehle ich Ärzten auf der Grundlage der in meiner systematischen Übersichtsarbeit zusammengefassten Evidenz und der Ergebnisse meiner eigenen Datenanalysen, bei älteren

(Darm-)Krebspatienten, die fünf oder mehr Medikamente einnehmen, eine Medikationsprüfung durchzuführen. Eine solche Medikamentenüberprüfung könnte in ein breiteres geriatrisches Assessment aufgenommen werden und sollte sich nicht nur auf die Reduzierung der Anzahl von Medikamenten (durch Streichung von Medikamenten ohne Indikation) konzentrieren, sondern auch die Angemessenheit von indizierten Medikamenten für ältere Erwachsene überprüfen und nach einer Unterversorgung mit indizierten Medikamenten suchen. Die FORTA-Liste könnte ein geeignetes Instrument für dieses Management der Ko-Medikation älterer (Darm-)Krebspatienten sein. Da der derzeitige Kenntnisstand jedoch auf Beobachtungsstudien beruht, sind weitere randomisierte kontrollierte Studien erforderlich, um zu prüfen, ob ein solches verbessertes Management der Begleitmedikation das Überleben älterer (Darm-)Krebspatienten verbessert.

 

Publikationen

  • Trares, K., Chen, L.J., & Schöttker, B. (2022). Association of F2-isoprostane levels with Alzheimer’s disease in observational studies: A systematic review and meta-analysis. Ageing Research Reviews, 74, 101552. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/j.arr.2021.101552
  • Chen L.J., Trares K, Laetsch DC, Nguyen TNM, Brenner H, Schöttker B. Systematic review and meta-analysis on the associations of polypharmacy and potentially inappropriate medication with adverse outcomes in older cancer patients. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2021;76 (6), 1044-1052.
  • Chen, L. J., Nguyen, T. N. M., Chang-Claude, J., Hoffmeister, M., Brenner, H. and Schöttker, B. Association of Polypharmacy with Colorectal Cancer Survival Among Older Patients. Oncologist 2021; 26 (12), e2170-e2180
  • Chen, L. J., Nguyen, T. N. M., Laetsch, D. C., Chang-Claude, J., Hoffmeister, M., Brenner, H. and Schöttker, B. Association of co-medication quality with chemotherapy-related adverse drug reactions and survival in older colorectal cancer patients. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2022; [epub ahead of print].
  • Chen, L. J., Nguyen, T. N. M., Chang-Claude, J., Hoffmeister, M., Brenner, H. and Schöttker, B. Comparison and combination of functional status, comorbidity, frailty, polypharmacy, and a co-medication quality score in the prediction of colorectal cancer survival; 2022 [submitted].

 

Kurzlebenslauf

02/2019-01/2022 Doktorandin, Abteilung für Klinische Epidemiologie und Alternsforschung Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg und Mitglied der Nachwuchsgruppe von Dr. Ben Schöttker, Netzwerk Alternsforschung (NAR)
2018-2018 Wissenschaftliche Angestellte, Forschungszentrum für Gesundheitsdaten, Nationale Universität von Taiwan, Taipeh, Taiwan
2017-2018 Wissenschaftliche Angestellte, Abteilung für Innere Medizin, Nationale Universität von Taiwan, Taipeh, Taiwan
2014-2017 Apothekerin, Abteilung für Pharmazie, Nationale Universität von Taiwan, Taipeh, Taiwan
2008-2014 Pharmazie-Studium, Nationale Universität von Taiwan, Taipeh, Taiwan

 

 

 

 

 

 

 

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Letzte Änderung: 15.02.2022
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