Prof. Dr. Bert Heinrichs

Heinrichs KlProf. Dr. Bert Heinrichs
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

 

Interview vom 05. Mai 2017 zum Vortrag
„Ethik und Demenz. Zum ethischen Umgang mit demenziellen Erkrankten“
(durchgeführt von Andrea Germann)


 

 

Der Titel Ihres Vortrags hieß ursprünglich „Twilight“. Worauf bezieht er sich? Bezieht er sich auf eine besondere Tageszeit zwischen Tag und Nacht, die Dämmerung, bevor es Richtung Nacht geht, also parallel zur geistigen Umnachtung?
Ich muss gestehen, der Begriff kommt gar nicht von mir. Ich übernehme ihn von meinem Kollegen Dieter Sturma, der ihn in einem Beitrag zum Thema Ethik und Demenz verwendet. Er weist dort darauf hin, dass sich das Leben von Personen am Anfang und am Ende scheinbar in Graubereichen abspielt. Es geht also nicht unbedingt um einen Dämmerzustand, sondern um Phasen, in denen vor allem wir von außen keinen einfachen Zugriff auf unsere Mitmenschen als Personen haben.


Sie sind Philosoph, Ethiker. Für mich ist die Philosophie verbunden mit Verstand, kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Wie ist dann die Verbindung zu Demenz?
Das stimmt. Traditionell spielt bei der Bestimmung des Menschen in der Philosophie die Kognition, die kognitiven Fähigkeiten, Verstand, Vernunft eine wichtige Rolle. Dennoch kann man sagen, dass es in den vergangenen Jahren eine gewisse Bewegung weg von solch einseitigen Bestimmungen gibt. Man erkennt nun, dass man den Menschen nicht allein auf das Kognitive beschränken kann. Das Personsein äußert sich sicherlich nicht nur in rein kognitiven Fähigkeiten.


Stichwort Personsein – Ist Ihrer Meinung nach eine Trennung zwischen Person, Personsein und Mensch wichtig für diese besondere Art des Seins in einer demenziellen Erkrankung?
Zunächst einmal glaube ich, dass man begrifflich zwischen Menschsein und Personsein trennen sollte. Dessen ungeachtet könnte es sein, dass wir am Ende zu der Einsicht kommen, dass alle Menschen auch Personen sind. Umgekehrt ist es aber wohl unplausibel, dass alle Personen auch Menschen sein müssen. Wir müssen eigentlich damit rechnen, dass es auch nichtmenschliche Personen gibt. Die Schwierigkeit besteht darin, Zuschreibungskriterien zu finden, mit denen wir operieren, wenn wir jemanden als Person bezeichnen. Das tun wir im Alltag ganz selbstverständlich, aber gerade an den Rändern des Lebens – „at the margins of life“, wie der Oxforder Philosoph Jeff McMahan sagt – haben wir häufig Probleme. Das betrifft beispielweise Embryonen; mit Bezug auf sie wird heftig diskutiert, ob sie schon Personen sind. Es betrifft aber auch Menschen im Zustand des Hirntods und vielleicht eben auch Demenzpatienten im Endstadium. Um das klar zu machen: Ich möchte nicht sagen, dass Demenzpatienten keine Personen mehr sind, sondern ich möchte sagen, dass wir uns überlegen müssen, anhand welcher Kriterien wir verlässlich Personsein fassbar machen.


Auguste D. sagte: „Ich habe mich selbst sozusagen verloren.“ Oder Andreas Wenderoth schreibt in seinem Buch, bzw. der Titel seines Buchs heißt „Ein halber Held“. Das hat auch sein Vater über seinen Zustand selbst gesagt. Heißt das, dass Menschen mit Demenz merken, dass ihre Fähigkeiten limitiert sind und dass dies ihren Zustand reflektiert?
Ja, das sind ganz interessante Selbstbeschreibungen, die darauf hindeuten, dass Personen tatsächlich das Gefühl haben, sich selbst zu verlieren. Es gibt auch Beschreibungen von Verwandten, die andeuten, dass da irgendwas verlorengeht. Natürlich gehen kognitive Fähigkeiten verloren. Doch das alleine ist scheinbar nicht das, was wir meinen, wenn wir sagen, dass das Personsein schwieriger fassbar wird. Kommunikative Prozesse scheinen mir hier sehr wichtig zu sein. Wir reden im Alltag miteinander und dann wissen wir, wir haben‘s mit jemandem zu tun und nicht mit etwas. Beim sogenannten Turing-Test geht es darum, „artifizielle Intelligenz“ durch Kommunikation als solche zu identifizieren. Das zeigt sich insbesondere da, wo Sprache und diskursive Fähigkeiten verlorengehen, oder – am Anfang des Lebens – wo sie noch nicht ausgebildet sind, da haben wir Probleme. Es fällt uns schwer, auf Personen Bezug zu nehmen und mit ihnen in einer ethisch verantwortungsvollen Weise umzugehen, wenn Kommunikation nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist.


Das würde sagen, wir, „chronisch“ normale Menschen, haben diesen besonderen Zugang verloren. Menschen mit Demenz kann man sehr lange erreichen, die sogenannten „Inseln des Selbst“, sei es nonverbal, sei es olfaktorisch, wenn man ihnen etwas Besonderes kocht, sei es palpaktorisch. Würden Sie sagen, dass es uns zeigt, dass wir selbst eigentlich limitiert sind und Menschen mit Demenz einen Mehrwert haben?
Jedenfalls scheint es mir so zu sein, dass wir im Umgang mit Menschen mit demenziellen Erkrankungen vor größeren Herausforderungen stehen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, das Sie gerade bereits erwähnt haben: Es geht um Nahrung, es geht um Essen. Man bereitet jemandem etwas zu essen und er schiebt es von sich. Das kann alles Mögliche bedeuten. Das kann zum Beispiel bedeuten, mir schmeckt das nicht, oder ich habe keinen Hunger oder vielleicht auch – wir kennen ja solche Berichte aus Pflegeheim – ich habe Zahnschmerzen und deshalb möchte ich nicht essen. Eigentlich hätte ich Hunger, aber ich kann gerade nicht essen. Im Umgang mit „normalen“, nicht an Demenz erkrankten Personen haben wir ein ganz einfaches Mittel herauszufinden, worin das Problem besteht: Wir fragen nach. Dann können wir überlegen, wie wir damit umgehen. Das heißt nicht unbedingt, dass wir drauf eingehen, aber jedenfalls haben wir einen Modus, mit dem wir die Unsicherheit ausräumen können. Dieser Weg ist uns im Fall der Demenz oft versperrt. Das wirft dramatische Probleme auf: Was sollen wir tun, wenn wir nicht ganz genau wissen, was eigentlich die Sachlage ist?


Sie haben gesagt „wir“, das heißt also ein Mensch mit Demenz ist nicht alleine, es ist immer eine Umwelt um ihn herum und auch die pflegenden Angehörigen. Sie müssen mit der Erkrankung, mit dem Verlust, mit dem Vergessen aber auch mit dem Erinnern kämpfen. Wie sollen diese pflegenden Angehörigen mit den Personen mit Demenz umgehen, dass es ethisch korrekt ist? Denn es ist unglaublich schwierig, jemandem, der gerade in dieser Erkrankung befangen ist, Respekt, Würde, Selbstbestimmung, eine Art von Autonomie wie zum Beispiel dignity of risk zu geben. Einfach zu sagen, ich versuche, dich zu pflegen nach meinen ethischen Vorstellungen, aber diese Vorstellungen korrespondieren auch mit den Vorstellungen der Person mit Demenz.
Ich will da die Erwartungen nicht zu hoch stecken, um nicht Gefahr zu laufen, sie am Ende nicht einlösen zu können. Ich habe auch kein Patentrezept, was wir genau tun sollen. Der Philosoph ist zunächst einmal in der glücklichen Situation, dass er schon dann seinen Beitrag geleistet hat, wenn er die Probleme möglichst präzise beschrieben hat. Was genau verursacht unsere Probleme im Umgang mit Menschen mit demenziellen Erkrankungen? Das möchte ich versuchen klarer herauszuarbeiten. Dazu scheint mir der Begriff der Person und die Rationalitätsunterstellungen, die wir üblicherweise mit ihm verbinden, hilfreich zu sein. Wir sehen so vor allem, wo unsere übliche Praxis kollabiert. Wenn das klar wird, dann habe ich hoffentlich schon etwas getan. Ob es darauf aufbauend gleichsam einen Königsweg gibt, um im Alltag mit diesen Problemen umzugehen, da bin ich eher skeptisch.


Ich musste jetzt an Seneca denken, der gesagt hat: „Der hat die Weisheit erfasst, der ebenso sorglos stirbt, wie er geboren wurde“. Es gibt auch indigene Völker, die sagen, Menschen, die demenzielle Erscheinungen haben, haben diese, weil sie ihre Weisheit an die nächste Generation gegeben haben. Deswegen haben sie keinen Zugang mehr zu diesem Wissen. Wie hilfreich sind solche Bilder?
Das sind interessante, hilfreiche, vielleicht auch manchmal trostvolle Überlegungen. Es gibt eine lange Diskussion in der Philosophie, die sich mit einem ähnlichen Thema beschäftigt, nämlich mit der richtigen Einstellung zum Tod: Sollten wir eigentlich Sorge vor dem Tod haben? Eine parallele Überlegung lautet: Sollten wir eigentlich Angst vor diesen Krankheiten haben? Auch hier kann die Philosophie nicht vorschreiben, wie man diese Fragen zu beantworten hat. Aber sie kann sicherlich Perspektiven eröffnen. Die Auffassung, dass wir in einer Generationenfolge stehen, ist eine, die tatsächlich hilfreich sein kann. Andererseits ist es natürlich so, dass eine Demenzerkrankung mit dramatischen Einschränkungen für die Personen selbst einhergeht und dass sie zu erheblichen Schwierigkeiten für die Personen im Umfeld der Erkrankten führt. Ich bin daher hin- und hergerissen. Ich glaube, dass diese Überlegungen schon hilfreich sein können, man darf sie aber auch nicht überbewerten.


Viele würden lieber an Krebs erkranken als Demenz. Warum ist die Demenz mit so einem Schreck verbunden? Warum würden viele Menschen lieber andere Krankheiten wählen?
Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Natürlich ist ein wichtiger Faktor der gesellschaftliche Umgang mit Demenz. Man kann Angst haben, mit bestimmten Einschränkungen in einem gesellschaftlichen Umfeld zu leben. Man kann sagen, in dieser Gesellschaft geht es mir als Demenzpatient schlechter als jemandem, der im Rollstuhl sitzt. Ob das richtig ist, weiß ich nicht, aber es könnte ein Grund für die besondere Angst sein. Eine tiefer liegende Sorge scheint jedoch zu sein, dass die Demenz anders als andere Erkrankungen in ganz besonderer Weise das Personsein betrifft. Mit körperlichen Einschränkungen kann man bestimmte Dinge nicht. Zum Beispiel kann man, wenn man im Rollstuhl sitzt, nicht tanzen. Ich kann vielleicht immer noch tanzen, aber nicht so wie wir das üblicherweise vor Augen haben. Bei Patienten mit Demenzerkrankungen, zumindest in späten Stadien, scheint es um etwas Anderes zu gehen als nur um den Verlust bestimmter Fähigkeiten. Die üblichen Interaktionsmechanismen, die vor allem über Sprache funktionieren, stehen nicht mehr zur Verfügung. Das scheint ein Grund zu sein, warum die Aussicht, an Demenz zu erkranken, für viele so besonders erschreckend ist. Es gibt natürlich andere Interaktionsmechanismen – darauf haben sie zurecht hingewiesen. Man soll die emotionale Ebene, die lange unterschätzt worden ist, vielleicht stärker in den Blick nehmen. Dennoch scheint auf emotionaler Ebene nicht alles kompensiert werden zu können.


Haben Sie Angst, selbst an dieser Krankheit zu erkranken?
Es wäre wohl nicht ehrlich zu sagen, dass ich nicht die Sorge habe, in meinem Leben einmal ernsthaft zu erkranken. Das hat u.a. etwas mit Lebensplänen zu tun, die für Menschen typisch sind. Krankheiten durchkreuzen solche Pläne und davor kann man Angst haben. Ihre Frage scheint aber zu meinen, ob ich eine besondere Angst habe, an Demenz zu erkranken? Ich versuche einmal folgende Antwort: Ich bin hoffnungsvoll, dass wir in den nächsten 30 bis 40 Jahren besser verstehen, den Umgang mit Demenzpatienten human zu gestalten. Wenn uns das gelingt, dann muss man vielleicht nicht mehr so sorgenvoll sein, speziell an dieser Krankheit zu leiden.
 

 

 

kutsubinas: E-Mail
Letzte Änderung: 17.07.2017
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