Antonia Diegisser, M.Sc.

Zur Person

NAR-Kolleg, Universität Heidelberg

              

Fotos Diegisser
 
Interview vom 14. Juni 2013 von Annette Franke

 

Was versteht man unter Sturzneigung im Alter?

Es ist bekannt, dass sich die Sturzneigung im Alter erhöht, in vielen wissenschaftlichen Studien wurde dies schon untersucht. Es geht dabei gar nicht so sehr um die Stürze, die bei Extremsportarten passieren, also wenn ein 80-Jähriger jetzt noch die Buckelpiste runterfährt oder  ein 70-Jähriger Kirschen pflückt und von der Leiter fällt, sondern es geht bei den Stürzen tatsächlich um die Sturzneigung bei Alltagsbewegungen. Da gibt es das klassische Beispiel, dass der ältere Mensch nachts zur Toilette geht und das Licht nicht richtig anmacht. Das schafft er die ersten fünf Jahre noch ganz gut und dann stürzt er dabei.

 

Und wie unterscheiden sich jetzt Stürze von älteren von jüngeren Menschen? Wie kann man sich das vorstellen? Haben die eine ähnliche Art, zu stürzen oder gibt es da Unterschiede?

Während Jüngere eher bei Sportarten stürzen, wie bei Fußball – und kleine Kinder stürzen 20,30 Mal am Tag und stehen wieder auf – ist es bei Älteren doch etwas anderes. Sie stürzen in Alltagssituationen, auf dem Marktplatz beim Einkaufen oder im Theater übersehen sie die Stufen und fallen hin. Der Ort ist anders und die Ursache. Jüngere Leute und kleine Kinder überschätzen ihre Kräfte und stürzen deswegen. Bei älteren Menschen ist es eher das Problem, dass sie einfach einen Mangel an Kraft, Koordination und Gleichgewicht haben.

 

Haben sie denn auch eine andere Art, zu stürzen oder gibt es da Muster, dass man sagt, Ältere stürzen eigentlich immer nach vorne, nach hinten, zur Seite?

Der häufigste Sturz im Alter ist der Sturz zur Seite und deswegen ist auch die häufigste Fraktur der Bruch des Hüftknochens. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen von jüngeren Patienten, denen man Marker auf den Körper aufgeklebt hat und mit Videokameras diesen Sturzmechanismus versucht hat zu analysieren. Daran konnte man erkennen, dass jüngere Patienten, wenn sie zur Seite stürzen, es schaffen, diesen direkten Aufprall auf den Hüftknochen zu vermeiden, indem sie sich nach vorne rotieren und schnell die Arme nach vorne nehmen. Und man vermutet, dass ältere Patienten wahrscheinlich diese Rotation des Körpers und diese schnelle Reaktion der oberen Extremitäten verloren haben.

Dann gibt es noch bei diesen seitlichen Stürzen etwas ganz Augenscheinliches: Wenn ein jüngerer Mensch in seinem Gleichgewichtssinn gestört wird, dann macht er einfach nur einen Ausfallschritt zur Seite und ist wieder stabil. Dahingegen sind bei Älteren mehrere Ausfallschritte von Nöten, bzw. dieser typische „Überkreuzschritt“. Und bei diesen Überkreuzschritten ist erstens die Gefahr viel höher, dass die beiden Beine aneinanderstoßen und sie praktisch über ihre eigenen Beine stürzen. Zweitens wird durch die verlängerte Phase des Einbeinstandes die gesamte Stabilität stärker gefordert.

 

Ab wann fängt denn in Ihren Studien das Alter an, diese Fragilität eben auch in den Mechanismen?

Das kann man leider überhaupt nicht so ganz genau sagen, das hängt von ganz vielen Faktoren ab. Also unsere Probanden waren älter als 55 Jahre. Wie hoch die tatsächlich Fragilität ist, hängt zum Beispiel sehr vom Grad der körperlichen Aktivität ab. Selbst ein 80-jähriger Patient mit einer starken Osteoporose, der aber regelmäßig wandert, in Osteoporose-Sportgruppen geht, noch mit dem Fahrrad einkaufen fährt, der hat sicherlich nicht so ein hohes Sturzrisiko wie der 80-Jährige, der nur noch vor dem Fernseher sitzt und Kaffee trinkt.

 

Also der Lebensstil spielt auch eine große Rolle. Sie haben gerade schon Osteoporose genannt und das ist ja auch Ihre Forschungsfrage. Wie der Zusammenhang ist von den verschiedenen Einschränkungen der Wirbelsäule: Wirbelsäulenschmerz, Wirbelsäulenstatik, Wirbelsäulenbeweglichkeit und eben Osteoporose. Wie können Sie diesen Zusammenhang erklären?

Also zum einen gucken wir auf Osteoporosepatienten, weil diese die typischen Altersphänomene in sehr komprimierter Form zeigen. Wenn man sich einen Osteoporosepatienten anschaut, dann hat er drei Hauptsymptome aufzuzeigen. Das ist einmal die Kyphose, also dieser typische Witwenbuckel, der Rundrücken, dann ist es die verminderte Beweglichkeit der Wirbelsäule in den vier Dimensionen Drehung, Seitenneigung und Streckung - Beugung. Und dann gibt es noch den Wirbelsäulenschmerz, der bei Osteoporosepatienten bedingt durch Frakturen oder auch Muskelverhärtungen im Vordergrund steht. Da diese 3 Dimensionen: Wirbelsäulenschmerz, Wirbelsäulenstatik und Wirbelsäulenbeweglichkeit die Hauptsymptome der Osteoporosepatienten sind und man weiß, dass Osteoporosepatienten vermehrt stürzen, stellte sich halt für uns die Frage: Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen den Wirbelsäulenfaktoren und dem Sturzrisiko?

 

Vielleicht können Sie kurz etwas zu Ihrer Studie erzählen. Was haben Sie genau untersucht und was sind zentrale Befunde?

Wir haben uns 100 Osteoporosepatienten  angeschaut und haben die mit einer Testbatterie untersucht. Das waren standardisierte Testverfahren, die das Gleichgewicht, die Gangsicherheit, die Mobilität untersucht haben, aber auch die Wirbelsäulenstatik und -beweglichkeit. Auch der Wirbelsäulenschmerz wurde aufgenommen. Zudem wurden auch die anderen Risikofaktoren erfasst, die den Sturz begünstigen, wie die verminderte Sehkraft, die Kognition, eine Multimedikation. Damit hatten wir also einen riesigen Blumenstrauß an Risikofaktoren, die wir auf einem Datenblatt gesammelt haben und dann mit der linearen Regression analysiert haben, um zu gucken, welche dieser Faktoren nun tatsächlich auf das Sturzrisiko einen Einfluss haben. Und am stärksten zeigte der Wirbelsäulenschmerz einen Einfluss auf das Sturzrisiko, was jetzt nicht so verwunderlich ist. Jemand der sehr schmerzhaft ist, bewegt sich vorsichtiger, bewegt sich vielleicht auch weniger und hat deshalb auch nicht mehr so viel Kraft und nicht mehr so viel Bewegungssicherheit wie jemand, der gar keinen Schmerz hat. Also der Wirbelsäulenschmerz hat den stärksten Einfluss auf das Sturzrisiko aber auch interessanterweise die Wirbelsäulenrotation. Je eingeschränkter die Wirbelsäulendrehung war, desto höher war das Sturzrisiko der Probanden. Man hat ja in einigen wissenschaftlichen Studien rausgefunden, dass jüngere Patienten den Sturz auf die Hüfte vermeiden, indem sie sich in der Wirbelsäule rotieren können, wie die Katze, die vom Baum springt und immer wieder auf den Pfoten landet, weil sie sich in der Luft um ihren Körper dreht, um ihre eigene Achse. Und dieser Faktor der Wirbelsäulenrotation, auch des Wirbelsäulenschmerzes sind beides Dinge, die in bekannten Sturzpräventionstrainingseinheiten eigentlich kaum bis gar nicht Beachtung finden. Das wäre ein Ausblick für die Zukunft, dass man auch diese Dinge mit einbindet in ein Sturzpräventionsprogramm und in der Gruppe versucht zu therapieren.

 

Gibt es eine Möglichkeit sich präventiv zu verhalten, um das vorzubeugen?

Definitiv. Einfach im Alltag mobil bleiben. Das Fahrrad nehmen, wandern gehen. Es muss nicht immer das Fitnessstudio sein, aber die einfachen Dinge, wie die Gartenarbeit, die Hausarbeit. Wenn man da beweglich und mobil bleibt, macht man schon sehr viel. Man kann natürlich auch richtige Sportprogramme nutzen, wie das Fitnessstudio. Wenn man jeden Tag beim Zähneputzen auf einem Bein steht und ohne Schuhe am besten beim Telefonieren den Einbeinstand übt, würde das den Bereich Gleichgewicht und Koordination abdecken. Gut hierfür ist auch der Tandemstand, der auch Seiltänzerstand genannt wird, bei dem die Füße genau hintereinander auf einer Linie stehen. Was ich aber auch wichtig finde ist, dass die Wirbelsäule beweglich bleibt. Das würde sie tun, wenn man selber den Garten und den Haushalt macht. Aber man kann auch durch ganz gezielte Bewegungsübungen die Wirbelsäule beweglich halten, indem man zum Beispiel. sich gerade hinsetzt und weit nach rechts über die Schulter schaut und wieder ganz langsam weit nach links über die Schulter schaut. Wenn man das in den Alltag mit einbezieht, natürlich nicht nur einmal, sondern vielleicht 20 Mal hintereinander, vormittags und nachmittags, tut man sich und seiner Stabilität viel Gutes.

 

Vielleicht gibt es da noch ernährungsphysiologische Faktoren, die man beachten müsste, jetzt hier bei Osteoporose denke ich immer gleich an Calciummangel, besonders bei Frauen, die jetzt vielleicht gefährdet sind?

Also das hat jetzt nicht unbedingt etwas mit dem Sturzrisiko zu tun, aber natürlich, wenn man Osteoporose hat, oder vielleicht in der Familie, die Mutter an Osteoporose leidet oder gelitten hat, sollte man auf kalziumreiche Ernährung achten: Käse, Milchprodukte, grüne Gemüse, Kräuter haben alle viel Kalzium. Wichtig ist aber auch das Vitamin D. Man darf natürlich keinen Sonnenbrand kriegen, aber Sonne in Maßen genießen, indem man darauf achtet, jeden Tag raus an die Luft zu gehen.

 

Zur Person

Antonia Diegisser absolvierte zwischen 1998 und 2001 eine  Ausbildung zur Physiotherapeutin in Marburg und arbeitete bis 2010 in einer Physiotherapie-Praxis mit orthopädischen, chirurgischen und sporttherapeutischen Schwerpunkten. 2007 machte sie an der Hochschule Fulda ihren Bachelor im Physiotherapie, 2009 ihren Master. Seit August 2010 ist Diegisser Stipendiatin des NAR-Kollegs.

In ihrer Freizeit geht Antonia Diegisser gerne Wandern oder arbeitet im Garten. Sie genießt gemeinsame Kochabende mit Freunden und das Zusammensein mit ihrer Familie. Ihre anderthalbjährige Tochter Luise hält sie dabei ganz schön auf Trapp.

 

Sokoll: Administrator
Letzte Änderung: 02.07.2013
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