Marcel Briand

Briand Kl

Marcel Briand
Dipl. Pflegefachmann mit Schwerpunkt Demenzbetroffene und sterbende Menschen, Bern, Schweiz

 

Interview vom 04. November 2016 zum Vortrag
Von unverschämter Achtsamkeit – Humorvolle Interaktion in der Pflege und Begleitung“
(durchgeführt von Christine Keller)

 

 

Was ist ein Begegnungs-Clown? Muss ich ein (Begegnungs-)Clown sein, um Menschen mit mehr Achtsamkeit begegnen zu können? Warum sind sie ein (Begegnungs-)Clown?

Ein Begegnungsclown ist für mich der Versuch, meine Tätigkeit zu beschreiben. Denn ich will mich ein bisschen zum Bühnenclown abgrenzen, weil ich als Clown mit Demenzbetroffenen in eine Begegnung gehe. Es geschieht meistens eins zu eins oder in Kleingruppenarbeit. Da geht es um Begegnung, um Interaktion. Man muss natürlich nicht Begegnungsclown sein, um achtsam mit den Menschen umgehen zu können. Da gibt es kein Copyright auf Achtsamkeit, vielmehr glaube ich, dass man auch als Pflegender fair und achtsam sein kann, soll und muss.

Und warum ich Begegnungsclown geworden bin – ich war Stationsleiter auf einer Demenz-Station und habe einfach gemerkt, dass ich als Clown vielmehr und viel intensiver an Menschen herantreten kann, wenn ich eine rote Nase habe. Meine Erklärung dafür ist, dass ich dann nicht auf einer kognitiven Ebene komme, denn vom Clown erwartet man das nicht, weil er im Menschen bestimmte Assoziationen weckt. Man weiß dann gleich: „Aha, da ist auch Einer unterwegs, der seine Schwierigkeiten mit der Normalität hat!“ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass demenzbetroffene Menschen – natürlich nicht alle, es ist nicht pauschal – sofort sehr emotional auf den Clown reagieren und sehr offen auf ihn zugehen. Es gibt aber durchaus auch Menschen, die sagen: „Nee, mit ihm will ich nichts zu tun haben!“ Ich glaube, das hat damit zu tun, dass der Clown eine emotionale Figur ist.

 

Sie sprechen von unverschämter Achtsamkeit. Was bedeutet das?

Das ist vor allem ein Wortspiel: Der Clown ist – und das ist schon immer seine Rolle gewesen – eigentlich eine unverschämte Person. Von ihm erwartet man auch, dass er ein bisschen frecher ist, dass er über Grenzen geht, dass er sich nicht an Konventionen hält. Wenn man es auf der philosophischen Ebene betrachtet, ist dies auch die Rolle des demenzbetroffenen Menschen. Demenzbetroffene Menschen sind unverschämt in dem Sinne, dass sie Konditionierungen, die wir gelernt haben, und die uns oft daran hindern, so zu sein, wie wir eigentlich sind, – oft überschreiten. Diese Filter und Hemmungen fallen sehr schnell weg und da kommt etwas zum Vorschein, was wir als direkt oder manchmal auch als affektiert erleben. Der Clown hat also die Rolle und auch die Fähigkeit, unverschämt zu sein, und trotzdem ist es natürlich unabdingbar, dass er achtsam damit umgeht, weil der Demenzbetroffene nicht absichtlich unverschämt ist, sondern aufgrund seiner Erkrankung.

 

In welchen Situationen wenden sie Humor an?

Das ist eine schwierige Frage für einen Clown, weil es eigentlich Situationen, in denen man keinen Humor anwenden kann, gar nicht gibt. Ich bin jedoch vorsichtig mit dem Thema Humor da, wo es allzu ausgelassen umhergeht. Denn manchmal erleben wir Situationen, in denen man sich beinahe entblödelt, und da bin ich eher zurückhaltend. Um es kurz und bündig zu sagen: Je ernster die Situation, desto notwendiger die Anwendung von Humor.

 

Und Ernst ist dann definiert bzw. orientiert an dem Anderen?

Ja, aber in einer anderen Situation. Sterben ist ja grundsätzlich eine ernste Situation und trotzdem ist es wichtig, dass wir den Humor auch einladen. Ärger, Stress sind ernste Situationen, überall dort, wo es für uns eng wird, wo Konflikte vorhanden sind, da finde ich den Humor sehr hilfreich. Im Karneval könnte er mir manchmal erspart bleiben. Überall dort, wo es ohnehin schon ausgelassen zugeht, wo es allzu oberflächlich wird, da mag ich den Humor nicht so sehr.

 

Sprechen Sie da von einem bestimmten Humor?

Für mich bedeutet der Humor, eine wohlwollende Haltung, die Positives implementiert und sich nicht zu ernst nimmt. Insbesondere dieser Humor ist sehr hilfreich im Zusammenhang mit Demenz. Es ist wichtig, dass wir als Pflegende, Betreuende oder Therapierende uns selber erst einmal nicht so ernst nehmen. Es geht mir vor allem um die Haltung. Es gibt natürlich Humorformen wie Sarkasmus, die im Zusammenhang mit demenzbetroffenen Menschen überhaupt nicht hilfreich sind, die jedoch im Stationsteam für uns, Pflegende, als Coping-Strategie hilfreich sein können. Aber davon sprechen wir eigentlich nicht im Zusammenhang mit Clownerie.

 

Sie unterscheiden also zwischen den verschiedenen Coping-Strategien?

Für Mitarbeitende oder für mich als Pflegeperson gibt es Situationen, in denen ich mit Demenzbetroffenen über eine Situation lache. Auch in der Psychiatrie merke ich es oft, dass es mir manchmal darum geht, mich selber zu entladen. Das sind aber andere Interaktionen wie z. B. Teamgespräche. Das sind nicht Interaktionen mit Betroffenen.

 

Sie haben bereits erwähnt, Sarkasmus wäre im Umgang mit Demenzbetroffenen nicht von Vorteil. Gibt es noch andere Humorarten oder was zeichnet eine humorvolle Interaktion als Begegnung zwischen Menschen aus?
Inkongruenz ist z. B. eine sehr hilfreiche Strategie. Demenzbetroffene Menschen machen oft Sachen, die unserem Verständnis nach nicht passen, und uns deswegen komisch vorkommen. Demenzbetroffene sind gerade deshalb komisch, weil sie Sachen verwechseln, weil sie Sachen verknüpfen, weil sie sich komisch benehmen. Wenn ich jedoch in eine Rolle gehen kann, in der ich Sachen umfunktioniere, in der ich mich nicht konventionell zu benehmen weiß, dann ist es für den demenzbetroffenen Menschen vertrauenerweckend. Ich hatte einmal die Situation, in der eine demenzbetroffene Frau auf mich zukam – und ich war als Clown unterwegs – und sagte: „Gott sei Dank. Endlich jemand, mit dem ich vernünftig sprechen kann!“ Denn sie hat gemerkt, dass wir zwei auf derselben Ebene unterwegs sind. Das ist eigentlich völlig abstrus, mit einem Demenzbetroffenen oder einem Clown vernünftig sprechen zu wollen. Aber auf dieser Ebene hat es funktioniert, weil wir dieselbe Wellenlänge hatten. Eine humorvolle Interaktion zwischen Menschen bedeutet für mich also ein gegenteiliges Sich-Einlassen aufeinander und auch auf eine spielerische und manchmal surreale Ebene.

 

Haben alte Menschen und im Speziellen Menschen mit Demenz einen „anderen“ Humor? Könnten sie uns ein Beispiel geben?

Das kann man nicht so beantworten. Es kommt schon sehr darauf an, was ich für einen Humorstil während meines Lebens habe. Wenn ich schon immer ein sarkastischer Mensch gewesen bin, dann glaube ich, dass es sich in der Demenz eher verbittert. Und wenn ich schon immer eine positive Haltung hatte, dann werde ich eher lockerer. Ich kann es nicht genau sagen, aber was ich erlebe, ist, dass Menschen sich vor allem über ihre kognitiven Fähigkeiten definieren. Menschen, die zum Beispiel intellektuelle Berufe, ausüben, neigen eher dazu, sich in der Demenz zurückzuziehen als aus sich herauszugehen. Sie haben es schwerer mit der Demenz. Ich erlebe auch Menschen, die sich schon immer auch über andere, z.B. über soziale, Fähigkeiten definieret haben, denen gelingt es besser in der Demenz, sich zurechtzufinden.

 

Was kann ich tun, um Humor in die Pflege und Betreuung von Menschen aber auch und vor allem in meinen eigenen privaten Alltag zu integrieren? Haben Sie da vielleicht spezielle Tipps?

Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir von Zeit zu Zeit den Fokus verändern und uns ganz bewusst und gezielt mit Humor beschäftigen. Also uns Fragen stellen: Was finde ich lustig, was ist für mich Humor und wo finde ich ihn auch? Habe ich denn ein paar Tools, habe ich denn ein paar lustige Bücher oder DVDs zu Hause, die ich mir anschauen kann, wenn es mir schlecht geht? Ich kann mir meine Familie und Bekannte anschauen – mit wem kann ich viel lachen, mit wem eher weniger. Also sich selber Fragen nach dem eigenen Umfeld stellen: Wo gehe ich denn hin, wenn es mir schlecht geht? Gehe ich eher zu den Menschen, mit denen ich ernste Gespräche führe, oder wo es lustig ist? Sie haben nach dem Humorstil gefragt – da geht es für mich einfach darum, zu schauen, wo kommt denn mein Humor her, weil es sich auch immer um eine Prägungsgeschichte handelt. Oder als Pendant zur Tiefenpsychologie – wie war denn meine Kindheit? Mit wem und worüber habe ich gelacht?

Ich möchte gerne auch ein paar Worte zum Inner-Clowning sagen – es geht oft nicht darum, dass ich äußerlich ein Clown bin, eine rote Nase trage und bunt bemalt bin, sondern meinen inneren Clown zu Hilfe oder Rat ziehen kann. Dass ich mir vorstelle, das sei ein kleiner Clown in mir drin, und mich gleichzeitig frage, wie er denn in einer bestimmten Situation reagieren würde. Man kann auch einen inneren Dialog mit diesem Clown führen: So würde ich mich beispielsweise gerne ärgern aber mein Clown wolle jetzt etwas ganz Anderes. Man kann aber auch andere Humorinstrumente benutzen. Humor ist schließlich ein Trick, um auf andere Ebene zu gelangen

 

Was wären solche Humorinstrumente?

Was mich betrifft, so ich bin sehr viel mit dem Auto unterwegs und daher sehr schnell gestresst und frustriert, wenn ich in einen Stau gerate. Frustration ist für mich das Gegenteil von Humor. Ich habe lange darüber nachgedacht, was eigentlich das Gegenteil von Humor wäre, und ich habe gemerkt, dass in Situationen, in denen ich keinen Humor habe, meine Frustrationstoleranzgrenze sehr tief ist. Dagegen kann man mich in den Situationen, in denen ich viel Humor habe, fast nie verärgern.

Deshalb habe ich immer auf Autofahrten einen sogenannten „Staurüssel“ dabei. Es handelt sich eigentlich bloß um eine Tiernase, um einen Elefantenrüssel, den ich mir umhängen kann. Wenn ich also in einen Stau komme, dann ziehe ich mir diesen Staurüssel an und schau mich um, wer noch sonst im Stau ist, wobei die Reaktionen meiner Staunachbarn mich dann blitzartig wieder aus der Situation herausholen. Ich benutze somit die Reaktion meiner Staunachbarn, die lachen und winken oder verärgert reagieren, als Humorinstrument, um mich selber zu überlisten. Das mache ich schon seit mehreren Jahren und es funktioniert immer! Es gibt natürlich noch zahlreiche andere Humorinstrumente, die ich auch in meinem Vortrag vorstellen werde.

 

Was würden Sie denn Angehörigen von alten Menschen und Menschen mit Demenz empfehlen?

Ich glaube, die zentrale Frage wäre die Frage der Werte. Demenzbetroffene Menschen entwickeln eine eigene Normalität, eine eigene Wertevorstellung, manchmal auch eigene Moralität. Eine der wichtigsten Fragen, – ich spreche jetzt als Clown, nicht als Angehöriger, denn ich habe keine Verwandten, die dement sind, – ist es die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, denn übliche Benimmregeln funktionieren nicht mehr im Zusammenhang mit Demenz. Da ist es sehr wichtig, dass wir lernen, die Welt der Demenz so zu nehmen, wie sie ist, und nicht versuchen, den Dementen wieder so hinzukriegen, wie wir ihn haben wollen oder wie wir ihn hatten. Wir sollen unsere eigenen Normen und Idealvorstellungen relativieren. Das ist natürlich eine sehr schwierige Aufgabe, weil der Verlust der Integrität und die Persönlichkeitsveränderung durch die Demenz massiv sind. Daher gibt es eigentlich nur die Richtung, dass wir uns dem Dementen anpassen, weil er sich selber uns nicht anpassen kann. Es gibt kein Zurück aus der Demenz oder die Möglichkeit, die demenzbetroffene Person wieder zu erziehen. Solche Erziehungsmaßnahmen erlebe ich oft: „Aber du musst doch schön essen! Aber du darfst das nicht sagen!“ Sie helfen jedoch nicht! Was hilft, ist nur, wenn ich mich als Angehöriger in die Welt der Demenz begebe und nicht umgekehrt. Ich muss also meine Haltung zum gesamten Leben überdenken. Ich muss mich wirklich fragen, ob es ein wertvolles Leben, ein würdevolles Leben jenseits von Konditionierung gibt.

Ich möchte noch einmal betonen, dass ich nicht als Angehöriger, sondern als Clown spreche, aber ich erlebe immer wieder demenzbetroffene Menschen, die ein sehr würdevolles und freies Leben leben. Dies betrifft natürlich nicht jede Phase der Demenz, jedoch erlebe ich wirklich Menschen, die sehr im Moment präsent und sehr glücklich sind, und denen es eigentlich gut geht. Das sind natürlich sehr kleine Momente und ich möchte die Demenz nicht schönreden, denn es ist eine schlimme Erkrankung. Aber auch in dieser schlimmen Erkrankung erlebe ich immer wieder sehr heitere, wirklich glückliche Augenblicke, die frei von Sorgen, Ängsten oder Nöten sind, und die ich bei nicht von Demenz betroffenen Menschen so nicht erlebe.

Heute werden zahlreiche Meditationsretreats, -seminare und -workshops angeboten. Wenn wir es auf der philosophischen Ebene betrachten, so ist die Meditation nichts anderes als der Versuch, sich im Moment und im Jetzt zu finden. In der Meditation ist es nämlich mein Ziel, alles um mich auszublenden und nur gerade in dem Augenblick zu leben. Eigentlich kann man diesen Zustand, den ich herbeizuführen versuche, mit dem dementen Zustand vergleichen. Ich möchte die Demenz keinesfalls schönreden, aber es gibt auch diesen Aspekt. Und wir sollen ihn auch unbedingt berücksichtigen.

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 29.05.2019
zum Seitenanfang/up