Geschichte der Medizin
Stefan Wesselmann - Dipl.-Gerontologe; Neuphilologe, M.A.
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Fellows: Prof. Dr. Andreas Kruse, Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart
Alter und Demenz im Diskurs der Mitte des 18. Jahrhunderts - Johann August Unzer und sein Umfeld
Texte über Alter und das Nachlassen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit sind vermutlich so alt wie die schriftliche Überlieferung selbst. Das Thema der Demenz hat wohl in der gesamten Menschheitsgeschichte eine Rolle gespielt. Im 18. Jahrhundert, der Epoche der Aufklärung, der Französischen Revolution und der beginnenden Industrialisierung, wandeln sich mit den Altersbildern und den Ansichten über den ‚Wert‘ alter Menschen auch die wissenschaftlichen Methoden. Es genügt nicht mehr, Hypothesen zu erdenken. Sie müssen auch belegt werden.
Johann August Unzer (1727-1799) ist für Johann Wolfgang von Goethe einer der drei bedeutendsten deutschsprachigen Mediziner dieser Zeit. Die heutige Geschichte der Medizin teilt dieses Urteil. Unzer kann wie sein Lehrer Johann Gottlob Krüger (1715-1759) einem Kreis von ‚Psychomedizinern‘ an der Universität Halle zugerechnet werden, die damals als beste in Deutschland gilt. In Halle werden die wichtigsten Theorien über den Zusammenhang des Leibes mit der Seele diskutiert: der Animismus Georg Ernst Stahls, der Mechanismus Herman Boerhaaves und Friedrich Hoffmanns Lehre vom Nervenfluidum. Auch die rationalistische Philosophie Christian Wolffs wird in Halle gelehrt.
Von 1759 bis 1764 gibt Unzer die Zeitschrift „Der Arzt“ heraus, die im Zuge der aufklärerischen Volksbildung Fachleuten und Laien medizinische Ratschläge gibt und damit enorme Resonanz findet. Einige Artikel im ‚Arzt‘ zeigen ein buntes Spektrum der damaligen Altersbilder und -krankheiten sowie der Therapien für alte Menschen: Aphasie bei einem 80-Jährigen, ein seniler Hypochonder als lächerliche Figur, eine krankhaft geizige ‚hässliche Alte‘ oder eine 63-Jährige, deren Lebensrecht angesichts ihres Alters in Frage gestellt wird. Unzer lässt sich von keiner medizinischen oder philosophischen Theorie völlig vereinnahmen. Er verknüpft die unterschiedlichsten Schulen und bekennt offen, dass ihm wirksame Therapien viel wichtiger sind als ein stringentes Theoriegebäude. Sein ganzheitlicher Ansatz, der Medizin, Philosophie, Theologie und Literatur verknüpft, wirkt heute geradezu vorbildlich.Unzers körpermedizinische Konzepte und Therapien entstammen dem zeittypischen Instrumentarium. Er verordnet Aderlässe bei Schlaganfällen, Gewürze gegen Melancholie und sein selbst hergestelltes Verdauungspräparat gegen die verschiedensten Krankheiten. Wachstum und Altern entstehen seiner Ansicht nach dadurch, dass der „Nahrungssaft“ die „Fäsergen“ des Körpers gewissermaßen aufpumpt und mit den Jahren verhärtet und austrocknet.
Da das heutige Konzept der Demenz im 18. Jahrhundert noch nicht definiert ist, sind demenzielle Ausfallerscheinungen in Unzers Texten oft nur umschrieben, z. B. als charakterliche Schwächen. Unzer schreibt jedem der drei Lebensalter sein typisches Hauptlaster zu: Die Jugend ist wollüstig, das Mannesalter ehrgeizig und das hohe Alter geizig. Alte Menschen, die sich ungewöhnlich verhalten, können auch unter Hexereiverdacht geraten. Im Gefolge des Halleschen Philosophen Christian Thomasius opponiert Unzer gegen den Hexenglauben. Er nimmt an, dass die meisten angeblichen Hexen wahnsinnig sind. Das altersbedingte Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses entsteht in Unzers Terminologie dadurch, dass die „Einbildungskraft“ ermattet und die „vergangenen Zustände der Welt“ daher von der „Seele“ nicht mehr korrekt wahrgenommen werden. Krüger hingegen glaubt, dass die „Gehirnfäsergen“ entweder erschlaffen oder versteifen und daher zu den Bewegungen nicht mehr fähig sind, die das Gedächtnis erfordert.
In der Dissertation wird Unzers Werk in den Zusammenhang seines Werdegangs und seiner Zeit gestellt. Die Forschung zu Demenz und der Umgang mit ihr weisen im 18. Jahrhundert durchaus Parallelen zur Gegenwart auf. Ein Ziel der Dissertation ist es, sie herauszuarbeiten und zu fragen, was aus dem historischen Diskurs zu lernen ist.
Veröffentlichungen (Auswahl)
- Wesselmann, Stefan: „Der Arzt“ als Dichter: Johann August Unzer (1727–1799) auf den Spuren Molières. Jahrbuch Literatur und Medizin VI (2014), 221-240.
- Wesselmann, Stefan: Johann August Unzer: Mediziner, Journalist, Philosoph – und Experte für ‚Demenz‘. Kulturfalter 11 (2013), 30-31.
- Wesselmann, Stefan: Bilder aus der Psychiatriepraxis. NOVAcura 11/12 (2010), 39-41.
- Wesselmann, Stefan: Demenz, Depression und Delir: So unterscheiden sie sich. NOVAcura 6 (2010), 11-13.
- Wesselmann, Stefan: Lebensqualität und Demenz: „H.I.L.DE. sagt uns, wie es dem Bewohner geht.“ Altenheim 4 (2009), 46-47.
- Wesselmann, Stefan: Wenn Vater leise Abschied nimmt – Volkskrankheit Demenz. Mannheimer Morgen, 17.06.2008, 3.
- Wesselmann, Stefan: Szenen einer Ausbildung: Maden baden. NOVA 3 (2007), 36-38.
- Wesselmann, Stefan: Menschlichkeit nach Dienstplan: Die Arbeit als Altenpfleger(in) erfordert mehr als ein paar gute Worte: Auch Disziplin und Nervenstärke sind gefragt. Mannheimer Morgen, 10.12.2005, 3.
Kurzlebenslauf
10/1999 | M.A. in Allgemeiner Rhetorik, Germanistik und Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen |
03/2000 - 11/2002 | Volontär und Redakteur beim Schwarzwälder Boten, Oberndorf/Neckar |
seit 12/2002 | Freier Journalist und Texter |
09/2007 | Examen zur Altenpflege-Fachkraft |
10/2007 - 02/2014 | Altenpflege-Fachkraft in der Augustinum Seniorenresidenz Heidelberg |
seit 04/2008 | Freie Mitarbeit beim "Mannheimer Morgen" |
10/2010 | Diplom im Aufbaustudiengang Gerontologie, Universität Heidelberg |
08/2010 - 02/2014 | Stipendiat des Graduiertenkollegs Demenz, Universität Heidelberg |
04/2013 | Stipendiat der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale) |